Ungarn spart sich krank

„Junge Welt“, 14.05.2007

Budapest, Puszta, Balaton – viel mehr fällt dem Durchschnittseuropäer kaum zu Ungarn ein. Vielleicht noch dies – das kleine Land an der Donau sonnte sich seit 1990 in der politischen und wirtschaftlichen Gunst der europäischen Anführermächte – vor allem der BRD. Hatte doch das Lieblingsurlaubsland der DDR-Bürger seinen Teil zur »deutschen Wiedervereinigung« beigetragen. Heute zählt es quasi zu Resteuropa. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von knapp 90 Milliarden Euro (BRD: 2300 Milliarden) zählt es zu den ökonomischen Zwergen, und nur bei EU-Gipfeln werden dessen Repäsentanten als Stimmvieh gebraucht, Leute wie Ferenc Gyurcsany beispielsweise, Ministerpräsident seit 2004 und Vorsitzender der sozialistischen Partei MSZP.

Premier als Lügenbaron

Ein Jahr nach der Wiederwahl im April 2006zählt dessen sozialliberale Regierung zu den unpopulärsten Europas. Beide Koalitionsspartner kämen derzeit neuesten Umfragen zufolge auf 25 Prozent Wählerzuspruch. Und das bei der notorischen Zweifelhaftigkeit jedweder Meinungsumfragen im bürgerlichen System. Der Premier ließ sich schon kurz nach dem Wahlsieg die Maske des vermeintlichen Volksvertreters vom Gesicht reißen: Heimlich mitgeschnittene Gepräche des Regierungschefs, in denen er zugab, während des Wahlkampfs das Volk »vor vorne bis hinten belogen« zu haben, gelangten an die Öffentlichkeit und führten zu teilweise erheblichen Unruhen. Die Sozialisten hatten u.a. die katastrophale Lage des ungarischen Haushalts verheimlicht, der 2006 ein Defizit von 9,2 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) aufwies.

Es liegt in der herrschenden Logik, daß nun Ungarns Bürger die Zeche zahlen, die MSZP und diverse Parteien in Vorgängerregierungen haben auflaufen lassen. Seitdem wird nach bester neoliberaler und realsozialdemokratischer Art gespart, »bis es quietscht«, wie man in Deutschland, speziell in Berlin, zu sagen pflegt. Mit Steuererhöhungen und Subventionskürzungen im sozialen und kulturellen Bereich will die Regierung das Haushaltsdefizit bis Ende 2007 auf 6,4 Prozent des BIP senken, und bereits 2009 unter die Drei-Prozent-Marke kommen.

Auch Ungarn hat seine »Gesundheitsreform«. Seit Anfang 2007 greift sie direkt in die Geldbeutel und das Wohlbefinden der Bürger. Satt gestiegene Gebühren für Arzt- und Krankenhausbesuche, kräftige Zahlungen für Medikamente – den Magyaren weht der Wind soziale Kälte ins Gesicht. Krankenhäuser wurden aus Kostengründen geschlossen, medizinisches Personal wurde auf die Straße gesetzt. Nach Meinung der regierenden Sozialisten reicht eine maximale Entfernung von 50 Kilometern zum nächsten Krankenhaus aus, um eine angemessene gesundheitliche Versorgung zu gewährleisten.

Die Resultate dürften Ungarns Sparkommissare und deren Brüsseler Instrukteure zufriedenstellen. So sank die Zahl der Organtransplantationen seit Einführung der Reform um 50 Prozent. Tausende Ärzte und Krankenschwestern haben Ungarn auf Arbeitssuche gen Westen verlassen. Immer wieder werden überdies Vorwürfe laut, nach denen die Klinikschließungen nicht aus Sicht der Haushaltskonsolidierung, sondern – wen wundert es – aus Profitstreben erfolgten. Mafiose Seilschaften sollen die teilweise in Toplagen befindlichen Grundstücke verkauft und sich einen beachtlichen Teil des Geldes in die Privattasche gesteckt haben.

Aber auch sonst waren die sozialliberalen Koalitionäre nicht faul. Gestrichen wurden die staatlichen Zuschüsse für Strom und Gas. Im Laufe der Legislaturperiode sollen 300000 Angestellte des öffentlichen Dienstes eingespart werden. Die hohe Mehrwertsteuer wirkt wie überall sozial ungerecht; sogar die Unternehmensverbände protestierten gegen eine beabsichtigte »Solidaritätssteuer«.

Anfang Juli beteuerte die Regierung, ihr »Reformwerk« fortsetzen zu wollen. Geplant ist eine schrittweise Anhebung des Rentenalters und eine Senkung des Rentenniveaus. Private Konzerne dürfen bald als Krankenversicherer in Ungarn tätig werden, was bisher dem Staat vorbehalten war. Eine Steuerreform soll zudem das derzeitige System transparenter machen und Kleinbetrieben sowie mittelständischen Unternehmen »Steuerentlastungen« bescheren. Die Einführung einer Immobiliensteuer wurde auf Drängen des liberalen Koalitionspartners hingegen auf 2009 vertagt.

Lob aus Brüssel

All diese Maßnahmen führten zu einem rapiden Rückgang der Nachfrage in Ungarn und zu dem niedrigsten Wirtschaftswachstum aller mittelosteuropäischen Länder. So brach laut dem ungarischen Statistischem Amt (KSH) der Einzelhandelsumsatz im April 2007 um 0,5 Prozent gegenüber dem Vormonat ein. Im Vergleich zum Vorjahr ging die Inlandsnachfrage sogar um 2,5 Prozent zurück, was einen in dieser Dekade noch nie dagewesenen Rückgang darstelle, so das KSH.

Einen »freundlichen Klaps auf den Rücken« konnte sich die ungarische Regierung hingegen in Brüssel abholen, wie die Financial Times Mitte Juni zu berichten wußte. Joaquin Almunia, EU-Kommissar für Währungsfragen, erklärte am 13. Juni, daß Budapest sein Versprechen gehalten und die im Rahmen eines mit der EU abgestimmten Konvergenzprogramms geforderten Schritte zur Senkung des Haushaltsdefizits durchgeführt habe. Almunias Report schlußfolgerte, daß keine »weiteren Maßnahmen« nötig seien, um die ungarische Führung auf Linie zu bringen. Die Kommission hatte zuvor gedroht, Budapest notfalls die EU-Beihilfen einzufrieren oder ganz zu streichen, sollte nichts gegen das Defizit unternommen werden.

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