Europa auf deutsche Art (I)

german-foreign-policy.com, 31.10.2011

Mit dem Sieg Berlins in den Machtkämpfen auf dem Euro-Krisengipfel vergangene Woche schreitet die deutsche Prägung des Kontinents weiter voran. Deutschland konnte seine Positionen in nahezu allen Streitpunkten durchsetzen – in der zentralen Frage, ob und wie der EU-Krisenfonds mittels „Hebeln“ ausgeweitet werden soll, ebenso wie in der Debatte über das Ausmaß des „Schuldenschnitts“ für Griechenland. Überdies bekräftigte der Gipfel die von der Bundesrepublik forcierte wirtschaftspolitische Linie, die stark verschuldeten Länder Südeuropas zu drastischen Sparprogrammen zu nötigen – ungeachtet der Tatsache, dass die deutschen Spardiktate bereits Griechenland in eine Abwärtsspirale gestoßen haben: Der beim Krisengipfel beschlossene „Schuldenschnitt“ wird, sollte alles nach Plan laufen, Athen auf den Schuldenstand heben, den es vor Beginn der deutsch-europäischen Spardiktate aufwies. Mittlerweile nehmen die Proteste in Südeuropa, aber auch in Frankreich gegen die deutschen Zwangsprogramme zu.

Der Hebel

Deutschland hat sich insbesondere bei der „Hebelung“ der EFSF-Mittel durchgesetzt, die laut Gipfelbeschluss über das von Berlin geforderte Versicherungssystem erfolgen wird. Dabei sollen die noch nicht anderweitig verplanten Mittel aus dem EFSF, die sich auf rund 250 Milliarden Euro belaufen, dazu aufgewendet werden, die Staatsanleihen südeuropäischer Schuldenländer teilweise gegen Ausfall zu versichern. Bei solch einer Kreditversicherung würden etwa 20 oder 25 Prozent der Kreditsumme durch den EFSF versichert, so dass mit den 250 Milliarden des EFSF rund eine Billion neu begebener Staatsanleihen „abgesichert“ werden kann – eine Art Teilkaskoversicherung. Das Kalkül hinter diesem maßgeblich von Berlin durchgesetzten Manöver besteht in der Spekulation, das Zinsniveau bei Staatsanleihen in Südeuropa werde sinken, wenn mit der Kreditversicherung das Ausfallrisiko verringert werde – zumindest zum Schein.

Südeuropäische Banken in Bedrängnis

Der griechische Schuldenschnitt von 50 Prozent, der das Scheitern der von Berlin erzwungenen Austeritätspolitik manifestiert – er resultiert aus der Erkenntnis, dass Griechenland unter dem Spardiktat täglich näher an den Abgrund rückt -, wurde auf dem Gipfel ebenfalls auf deutsches Drängen und gegen französische Widerstände beschlossen. Die dadurch in Bedrängnis geratenen Banken müssen laut den Gipfelbeschlüssen nun eine Erhöhung ihrer Kernkapitalquote auf neun Prozent durchführen; dies kann wohl nur von den Finanzhäusern jenseits der südeuropäischen Peripherie auf den Finanzmärkten realisiert werden, wie es beim Krisengipfel vereinbart wurde. Vor allem die Banken aus Griechenland, Spanien und Italien werden dazu jedoch kaum in der Lage sein, weshalb sie womöglich staatliche Kapitalinfusionen erhalten müssen. Die ebenfalls auf deutsches Betreiben eingeführte Regelung, wonach im Notfall primär die Heimatstaaten der betroffenen Banken die Rekapitalisierung durchführen sollen, dürfte die Schuldenkrise in Spanien und Italien weiter anheizen. Griechische Banken werden sich ohnehin an den EFSF wenden müssen, um ihre Kapitalaufstockung um gut 30 Milliarden Euro realisieren zu können. Die Mittel des EFSF dürfen nur dann zur Rekapitalisierung der Banken benutzt werden, wenn die betreffenden Staaten an der Grenze ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit angelangt sind.

In die Abwärtsspirale

Zudem wurde insbesondere Italien von Berlin und Paris gedrängt, mittels rabiater Sparprogramme einen Kurs zur Haushaltkonsolidierung einzuschlagen, wie er auch Griechenland oder Portugal aufgenötigt wurde – mit verheerenden Folgen. So musste sich Rom verpflichten, eine „Schuldenbremse“ nach deutschem Vorbild in der Verfassung zu verankern, den Staatshaushalt bis 2012 zu konsolidieren und bis 2013 die Staatsschuld von 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf 113 Prozent zu senken.[1] Dem ohnehin in wirtschaftlicher Stagnation verharrenden Land droht damit ein ähnlicher Absturz wie Griechenland, das durch Spardiktate vollends in den ökonomischen Kollaps getrieben wurde (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Die Schulden Griechenlands haben inzwischen aufgrund Wirtschaftskontraktion, einbrechender Steuereinnahmen und explodierender Sozialkosten rund 160 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erreicht. Durch den „Schuldenschnitt“ sollen die Außenstände bis zum Jahr 2020 auf 120 Prozent des BIP gedrückt werden; dieses Verschuldungsniveau verzeichnete Athen vor Beginn der „Sparprogramme“, die maßgeblich von Berlin erzwungen wurden. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich mittlerweile in Portugal ab, wo ebenfalls als Gegenleistung für EFSF-Krisenkredite knallharte Austeritätsprogramme umgesetzt werden mussten. Ende Oktober hat die Regierung in Lissabon ihre Wirtschaftsprognosen für 2012 nach unten korrigiert: Das BIP soll nächstes Jahr um 2,8 Prozent schrumpfen; ursprünglich war man von einem Minus von 1,8 Prozent ausgegangen. Die ökonomische Kontraktion wird voraussichtlich auch in Portugal die Realisierung der Sparvorgaben aus Brüssel und Berlin unmöglich machen.

Vor dem Scheitern

Überdies zeichnet sich schon jetzt ein Scheitern des von Berlin entworfenen und durchgesetzten Versicherungsmodells zur EFSF-Hebelung ab. Die Gipfelbeschlüsse trugen zwar zu einem kurzfristigen Kursfeuerwerk auf den Aktienmärkten bei, doch ist nicht dies, sondern die Entwicklung auf den Märkten für Staatsanleihen entscheidend – und genau hier bleibt die Lage weiterhin dramatisch. Der Zinsunterschied – im Finanzjargon „Spread“ genannt – zwischen deutschen und italienischen Staatspapieren erreichte am vergangenen Freitag nahezu vier Prozent. Italien musste kurz nach Bekanntgabe der Gipfelergebnisse die höchste Zinsbelastung seit der Einführung des Euro hinnehmen; sie betrug bei der Begebung von rund drei Milliarden Euro im Schnitt 6,06 Prozent. Da das von Berlin durchgesetzte Versicherungsprogramm für Staatsanleihen gerade die Zinslast südeuropäischer Länder absenken sollte, ist sein Scheitern schon nach wenigen Tagen offensichtlich. Deutsche Medien geben allerdings der italienischen Regierung die Schuld: „Das chronisch schwache Wachstum Italiens, die hohe Schuldenlast und die mangelnde politische Durchsetzungskraft der Regierung in Rom belasten die gesamte Euro-Rettung immer stärker.“[3]

Alle Sinne beisammen

Mit dem Versicherungsmodell für Staatsanleihen hat Berlin de facto die Kreditversicherungen für faule Hypothekenpapiere kopiert, die auf dem Höhepunkt der Immobilienblase den Anlegern eine trügerische Sicherheit vorgaukelten – bis die Kreditversicherer selbst bankrott gingen. Offenbar haben die meisten Anleger die fatalen Scheinversicherungen (CDS, „Credit Default Swaps“) noch lebendig genug in Erinnerung, um das deutsche Staatsanleihen-Versicherungsmodell zu ignorieren. Niemand, der noch „alle Sinne beisammen“ habe, werde CDS als Absicherung akzeptieren, wenn selbst ein 50-Prozent-Schuldenschnitt Griechenlands einen solchen Versicherungsfall nicht auslöse, wird ein Finanzmanager in der US-Presse zitiert: „Jetzt besteht die einzige Absicherung im Verkaufen.“[4] Damit droht die Zinsdynamik, die im Falle Griechenlands fatale Folgen hatte, auch auf andere Eurostaaten überzugreifen. Keynesianische Ökonomen wie der Nobelpreisträger Paul Krugman argumentierten bereits vor dem EU-Gipfel, nur noch faktische Gelddruckerei durch den massiven Aufkauf von Staatsanleihen durch die Europäische Notenbank EZB könne die Eurokrise abmildern.[5] Berlin jedoch opponiert weiterhin gegen solche Notmaßnahmen.

Ökonomie statt Krieg

Die umfassende Durchsetzung der deutschen Linie in der Krisenpolitik der EU hält die Kosten für Deutschland und die übrigen nördlichen Eurostaaten vergleichsweise niedrig und ermöglicht ein fortgesetztes Ausplündern der südlichen Euroländer (german-foreign-policy.com berichtete [6]), beschleunigt aber zugleich die Krisendynamik und scheint geeignet, die südlichen Eurostaaten in ein wirtschaftliches Desaster zu führen. Janwillem Acket, Chefvolkswirt der Schweizer Privatbankengruppe Julius Bär, fasst das nahezu vollständig durchgesetzte Diktat Berlins in klaren Worten zusammen: „Die Gruppe um Deutschland hat sich durchgesetzt.“[7] Zudem kocht in vielen Ländern die Wut auf den deutschen „Zuchtmeister“ hoch; die Stimmung wendet sich in Südeuropa und in Frankreich immer stärker gegen die Bundesrepublik. Die von Berlin durchgesetzten Austeritätsmaßnahmen hätten in Griechenland „historische Feindschaften“ wiederbelebt und die Zerstörung des Landes durch das NS-Reich in Erinnerung gerufen, heißt es in aktuellen Berichten. Der für die renommierte Zeitung Eleftherotypia tätige Cartoonist Stathis Stavropoulos etwa wird mit den Worten zitiert, Deutschland versuche nun mit „ökonomischen Mitteln“ das zu erreichen, woran es im „Zweiten Weltkrieg mit Waffengewalt“ gescheitert sei. Infolge der sich zunehmend gegen Deutschland wendenden Stimmung begegneten immer mehr Griechen, heißt es, auch deutschen Touristen mit Groll.[8]

In die Katastrophe

Auch in Rom nimmt nach den heftigen Attacken von Merkel und Sarkozy gegen den italienischen Regierungschef Berlusconi beim Krisengipfel letzte Woche der Unmut über die Bundesrepublik zu. Staatspräsident Giorgio Napolitano sprach von „unpassenden und unangenehmen öffentlichen Äußerungen“ des deutsch-französischen Führungsduos. Berlusconis rechter Koalitionspartner Umberto Bossi erklärte rundweg, seine Regierung könne nicht einfach das Rentenalter anheben, „nur um den Deutschen einen Gefallen zu tun.“[9] In Frankreich wiederum prangert vor allem die linke Opposition die Berliner Dominanz innerhalb der EU an; sie sei nun, heißt es, durch die Gipfelbeschlüsse zementiert worden. „Ein Europa auf deutsche Art führt in die Katastrophe,“ warnte etwa der Präsidentschaftsanwärter Jean-Luc Mélenchon.[10]

Weitere Berichte und Hintergrundinformationen zur Euro-Krise finden Sie hier: Die deutsche Transferunion, Die Germanisierung Europas, Teilsieg für Deutsch-Europa, Aus der Krise in die Krise, Steil abwärts, Alles muss raus!, Im Mittelpunkt der Proteste, Der Wert des Euro, Die Widersprüche der Krise, Der Krisenprofiteur, In der Gefahrenzone, Erkenntnisse einer neuen Zeit, Souveräne Rechte: Null und nichtig, Die Folgen des Spardiktats und Auf Kollisionskurs.

[1] Was Merkel und Co. beschlossen haben; www.spiegel.de 27.10.2011
[2] s. dazu Aus der Krise in die Krise und Steil abwärts
[3] Italien schimpft auf Kanzlerin und Deutsche; www.spiegel.de 25.10.2011
[4] Why ‚Voluntary‘ Haircuts On Greek Bonds Will Haunt Europe; www.forbes.com 27.10.2011
[5] Paul Krugman: The Hole in Europe’s Bucket; www.nytimes.com 23.10.2011
[6] s. dazu Alles muss raus!
[7] Ackermann lobt den Gipfel; www.n-tv.de 27.10.2011
[8] Cartoons, art point at revived historical enmity; www.athensnews.gr 26.10.2011. S. auch Die Folgen des Spardiktats
[9] Italien schimpft auf Kanzlerin und Deutsche; www.spiegel.de 25.10.2011
[10] Frankreichs Linke pestet gegen „deutsches Europa“; www.welt.de 27.10.2011

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