Energiewende Richtung Russland

german-foreign-policy.com, 14.09.2011

Kurz vor der Inbetriebnahme der Erdgaspipeline „Nord Stream“ („Ostsee-Pipeline“) steht ein Konkurrenzprojekt zur deutsch-russischen Hegemonie über die europäische Gasversorgung vor dem Scheitern. Betroffen ist das Pipelinevorhaben „Nabucco“, das die riesigen Erdgasvorräte Zentralasiens und des Nahen und Mittleren Ostens nach Europa führen soll – unter Umgehung Russlands, um diesem keinen neuen Einfluss auf den Gastransport in die EU einzuräumen. Nachdem es dem Moskauer Energiekonzern Gazprom gelungen ist, eines der Nabucco-Konsortialmitglieder, den deutschen RWE-Konzern, für deutsch-russische Kooperationen zu werben, sehen Beobachter die Chancen für eine Verwirklichung von Nabucco weiter schwinden. Das Vorhaben steht ohnehin in Frage, weil bisher nicht ausreichend Lieferzusagen seitens der erdgasfördernden Länder der Zielregion eingeholt werden konnten; in einem verzweifelten Versuch bemüht sich die EU-Kommission nun noch um Erdgas aus Turkmenistan. Anhänger einer engeren deutsch-russischen Kooperation feiern bereits eine „Energiewende Richtung Russland“, auch wenn Teile des Berliner und des Brüsseler Establishments sich weiter um Nabucco bemühen. Die Zeit drängt: Letzte Woche hat „Nord Stream“ den Probebetrieb aufgenommen und soll ab Oktober regelmäßig Erdgas aus Russland direkt nach Deutschland liefern.

Mehr Gas

Transatlantisch orientierte Kräfte in Berlin und Brüssel halten kurz vor der endgültigen Inbetriebnahme der deutsch-russischen Erdgasröhre Nord Stream („Ostsee-Pipeline“) an dem umstrittenen Pipelineprojekt „Nabucco“ fest. EU-Energiekommissar Günther Oettinger betonte Ende August auf einer Tagung der Wirtschaftszeitung „Handelsblatt“, die Realisierung der Erdgasleitung habe durch den Super-Gau in Japan an Bedeutung gewonnen: „Eigentlich ist durch Fukushima Nabucco wahrscheinlicher geworden.“[1] Deutschland habe nach der Katastrophe in Japan einen beschleunigten Atomausstieg beschlossen, und auch in anderen EU-Staaten wüchsen die Zweifel an der Kernenergie. Die entstehende Lücke in der Energieversorgung solle vor allem durch die stärkere Nutzung von Erdgas gefüllt werden. Zusätzlich plädierte Oettinger für umfassendere Aktivitäten der EU in Nordafrika, um durch die Nutzung regenerativer Energiequellen dort die Diversifizierung der europäischen Energieversorgung zu forcieren. „Wir brauchen eine paneuropäische Strategie, wenn wir unsere Energieversorgung auf einem erschwinglichen Niveau sichern wollen“, erklärte Oettinger.[2]

Konkurrenzpipelines

Mit der Nabucco-Pipeline wollen Berlin und Brüssel seit Jahren die enormen Erdgasvorkommen Zentralasiens und des Nahen und Mittleren Ostens erschließen – und dies unter Umgehung Russlands. Moskau sieht das von einem europäischen Konsortium getragene Projekt als direkte Bedrohung seiner geostrategischen Pläne an, ein „Energieimperium“ zu errichten, bei dem die Kontrolle über die gesamte energetische Verwertungskette – von der Förderung über den Transport bis zum Konsum in der EU – in Moskau liegt. Der russische Gasmonopolist Gazprom treibt deshalb in Kooperation mit dem italienischen Gasversorger Eni und künftig wohl auch der deutschen BASF-Tochter Wintershall eine Konkurrenzpipleine („South Stream“) voran, die – auf dem Boden des Schwarzen Meeres verlaufend – Südrussland mit der EU verbinden soll. Nabucco würde hingegen russisches Territorium meiden und von Aserbaidschan durch den Südkaukasus und die Türkei nach Europa verlaufen, eventuell unter Einbeziehung des Irak. Um die ökonomisch erforderliche jährliche Transportkapazität von rund 31 Milliarden Kubikmeter Erdgas zu erreichen, bemüht sich Brüssel um den Abschluss langfristiger Lieferverträge mit Aserbaidschan, Turkmenistan und eventuell dem Irak – bislang erfolglos. In einem womöglich letzten Versuch verhandelt die EU-Kommission nun noch mit Turkmenistan über eine Zulieferpipeline durch das Kaspische Meer. Das seit 2002 in Planung befindliche Nabucco-Projekt krankt allerdings nicht nur unter fehlenden Lieferzusagen, sondern auch unter explodierenden Kosten: „Von Wien bis zum Schwarzen Meer kostet das 10 Milliarden Euro oder mehr“, räumte Oettinger während der Handelsblatt-Tagung ein.[3] Ursprünglich waren für das Vorhaben acht Milliarden Euro veranschlagt worden.

Neuausrichtung

Oettinger äußerte sich auch zum jüngsten Rückschlag für das Nabucco-Konsortium, an dem sich Energiekonzerne aus Deutschland (RWE), Österreich (OMV), Ungarn (MOL), Rumänien (Transgaz), Bulgarien (Bulgargaz) und der Türkei (BOTAS) beteiligen. Dabei handelt es sich um einen geschickten Schachzug Moskaus: Gazprom schloss eine enge Partnerschaft ausgerechnet mit dem deutschen RWE-Konzern, also einem Mitglied des Nabucco-Konsortiums, ab. Geplant ist eine Kooperation in der Kraftwerkssparte, bei der Gazprom durch ein Joint Venture an den Kraftwerken von RWE beteiligt wird, während das Essener Unternehmen im Gegenzug auf Gaslieferungen zu verbilligten Preisen rechnen kann. Zwar hat RWE zuletzt Anfang August betont, weiterhin am Nabucco-Projekt teilnehmen zu wollen, und EU-Kommissar Oettinger erklärt: „Ich baue darauf, dass RWE an Bord bleibt“.[4] Doch wird der dominante deutsche Energieriese nicht mehr als treibende Kraft in dem Konkurrenzprojekt zur russischen Energiepolitik auftreten. Sein Unternehmen leide aufgrund des beschlossenen Atomausstiegs „unter einer substanziellen Finanzlast“, erklärte RWE-Chef Jürgen Großmann am 11. August.[5] Die Kooperation mit Gazprom wird von RWE nun im Rahmen einer strategischen Neuausrichtung in Angriff genommen, die auf eine Intensivierung der Konzernaktivitäten auf dem Feld fossiler Energieträger zielt. Dabei treibt das Unternehmen die mit der Nord Stream-Pipeline forcierte Verflechtung der Energiebranchen Deutschlands und Russlands weiter voran.

Zwei Opfer

Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) sieht inzwischen sogar die Konturen einer „strategischen Partnerschaft Russland – EU“ aufscheinen.[6] Dabei ist mit „EU“ faktisch vor allem Deutschland gemeint. Berlin habe seine Blockade gegenüber russischen Investitionen in der Bundesrepublik nun auf dem Energiesektor aufgegeben, schreibt DGAP-Experte Alexander Rahr, einer der maßgeblichen Berliner Befürworter einer deutsch-russischen Kooperation: „Jetzt sind russische Investoren in Deutschland doch willkommen – vor allem im Energiebereich.“ Diese deutsche „Energiewende Richtung Russland“ fordere jedoch, urteilt Rahr, „zwei Opfer“ – die Ukraine und Nabucco. Die Ukraine drohe ihre strategische Bedeutung als Transitland für russische Energieträger zu verlieren, da sie sich weigere, ihre Pipelines „an Russland oder die EU“ zu verkaufen; daher entstünden nun eben „Pipelines in Umgehung der Ukraine“. Rahrs Auslassungen bestätigen die Befürchtungen in vielen mittelosteuropäischen Ländern, eine enge deutsch-russische Allianz werde zu fortschreitender geostrategischer und wirtschaftlicher Marginalisierung der Staaten zwischen Baltikum und Schwarzem Meer führen – und letztlich womöglich gar zu weiteren Souveränitätsverlusten.

Vor dem Scheitern

Das zweite Opfer der fortschreitenden energiepolitischen Verflechtung zwischen Moskau und Berlin stellt laut DGAP die Nabucco-Pipeline dar. DGAP-Experte Rahr fragt rhetorisch: „Könnte die beginnende Allianz mit Gasprom RWE zum Seitenwechsel zwingen?“[7] Zudem habe Nabucco – im Gegensatz zum russischen Konkurrenzprojekt South Stream – immer noch keine Sicherheiten für ausreichende Erdgaslieferungen verbuchen können: „Die kaspischen Anrainer Aserbaidschan und Turkmenistan können die erforderlichen Gasmengen immer noch nicht garantieren, das internationale Konsortium von Nabucco scheint brüchig und innerhalb der EU gibt es nicht den erwarteten Konsens aller Staaten für das Projekt.“ Aserdaidschan gilt bislang als das einzige Land, dessen Bereitschaft, Nabucco mit Erdgas zu befüllen, außer Frage steht – wobei Baku jüngst erklärte, die Pipeline mit höchstens zehn Milliarden Kubikmeter Erdgas jährlich versorgen zu können.[8] Das ist weniger als ein Drittel der vom Nabucco-Konsortium angestrebten jährlichen Beförderungskapazität. Die EU aber wolle bei Realisierung des Nabucco-Projekts ohnehin nicht „einzig vom aserbaidschanischen Erdgas“ abhängig sein, erläuterte Alexander Rahr gegenüber aserbaidschanischen Medien: „Wenn keine zusätzlichen Quellen gefunden werden, wird Nabucco niemals realisiert.“[9]
[1] Oettinger: Nabucco durch Fukushima wahrscheinlicher; www.euractiv.de 30.08.2011
[2] EU should broaden energy cooperation with north Africa: Oettinger; www.platts.com 30.08.2011
[3] Oettinger: Nabucco durch Fukushima wahrscheinlicher; www.euractiv.de 30.08.2011
[4] Tomasz Konicz: Vom Energie- zum Waffendeal; www.konicz.info/?p=1774. RWE still committed to Nabucco; www.upi.com 11.08.2011
[5] Oettinger: Nabucco durch Fukushima wahrscheinlicher; www.euractiv.de 30.08.2011
[6], [7] Alexander Rahr: Neue Energiewende: Back to Gasprom; www.dgap.org 22.07.2011
[8] Azerbaijan Sees 10 Billion Cubic Meters of Gas Shipped to Europe; www.bloomberg.com 01.09.2011
[9] Azerbaijan has ‚key position‘ on Nabucco gas pipeline; www.news.az 23.08.2011

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