Politik in der Krisenfalle

Telepolis, 13.08.2011
Wieso weder Washington noch Brüssel die Weltwirtschaftskrise mittels politischer Maßnahmen überwinden können

Der öffentliche Konsens scheint bei der Ursachenforschung des neusten Kriseneinbruchs nahezu allumfassend: Die Politik trägt die Hauptschuld an den jüngsten Börsenbeben, das aller Wahrscheinlichkeit einen erneuten Krisenschub ankündigt, bei dem die Weltwirtschaft abermals in die Rezession abdriften dürfte. Leidenschaftliche Auseinandersetzungen gibt es nur hinsichtlich der konkreten Politikfehler, die zu dem Desaster geführt haben sollen.

Zum einen mehren sich die Stimmen, die der Politik vorwerfen, in den vergangenen Jahren oder gar Jahrzehnten zu verschwenderisch gewesen zu sein, und somit die derzeitige Krise der Staatsfinanzen ausgelöst zu haben. Insbesondere in der rechtspopulistischen Ecke, aber auch in liberalen Leitmedien findet sich oft der Verweis darauf, dass „die USA, viele europäische und auch einige asiatische Länder“ zu lange „über ihre Verhältnisse gelebt“ hätten und nun von den Ratingagenturen dafür – durchaus zurecht – die Quittung erhalten würden. Berüchtigt sind inzwischen die Auslassungen von Kanzlerin Merkel, die Griechenland unter Verweis auf die Haushaltsdisziplin „schwäbischer Hausfrauen“ zu mehr Sparsamkeit aufforderte. Die Vertreter dieser Argumentationslinie plädieren für harte und natürlich „schmerzhafte“ Sparmaßnahmen und Austeritätsprogramme, um die Staatsschulden abzubauen. Das jüngste Börsenbeben scheint somit durch die Angst der „Märkte“ vor einer untragbaren Staatsverschuldung ausgelöst worden zu sein, die aufgrund der fortbestehenden Desintegrationsprozesse in der Eurozone geschürt und durch die Bonitätsabwertung der USA beflügelt wurde.

Das andere große Lager der Politikkritiker bilden Persönlichkeiten wie der Ökonom Paul Krugman, die der Politik vorwerfen, zu passiv geblieben zu sein und nicht genügend große Konjunkturprogramme aufgelegt zu haben, wodurch die USA sich bereits in Stagnation befänden. Die nun in den Vereinigten Staaten beschlossenen Sparmaßnahmen würden die Konjunktur aufgrund der verringerten Staatsnachfrage vollends abwürgen und eine Rezession wahrscheinlich machen. Diese Gegner harter Sparprogramme argumentieren somit genau umgekehrt: Der Börseneinbruch wurde demnach durch Konjunkturängste der „Märkte“ ausgelöst, weil der Schuldenstreit in den USA erst beigelegt werden konnte, nachdem der rechtsextreme Flügel der Republikaner massive Haushaltskürzungen durchsetzte (Vom Schulden-Showdown in die Rezession). Es sei eine „Wachstumsangst“, die durch die Haushaltskürzungen in den USA neue Nahrung erhalten habe, und die schließlich die wichtigsten Börsennotierungen auf Talfahrt schickte.

Soll die Politik die Staatsverschuldung weiter hochtreiben, um die Wirtschaft mittels weiterer Konjunkturmaßnahmen zu stützen? Oder muss die politische Klasse daran gehen, die ausufernden Schuldenberge abzutragen, die immer mehr Volkswirtschaften aufgrund steigender Zinslast an den Rand des Staatsbanktrotts treiben? Dieser Zwiespalt stellt den zentralen Streitpunkt bei den wirtschafts- und finanzpolitischen Auseinandersetzungen in nahezu allen westlichen Industriestaaten dar. Die Auseinandersetzungen um die konkrete Ausgestaltung der kapitalistischen Krisenpolitik gewinnen auch deswegen an Härte, weil beide Fraktionen in diesem Disput die desaströsen Konsequenzen der Politik der Gegenseite durchaus zurecht fürchten. Fakt ist, dass etliche Länder ihre Haushaltsdefizite aufgrund ausartender Staatsverschuldung tatsächlich nicht mehr auf den Finanzmärkten refinanzieren können – und etwa unter den „Euro-Rettungsschirm“ flüchten mussten. Selbst wenn Spekulanten tatsächlich die Krise mit Attacken gegen einzelne Volkswirtschaften zusätzlich angeheizt haben, dann war dies doch nur möglich, weil das Verschuldungsniveau der betroffenen Länder bereits unhaltbar hoch ist. Populistische Polemik gegen „umtriebige Spekulanten“ verfehlt den Kern des Problems: Das kapitalistische System befindet sich tatsächlich in einer Schuldenkrise, und hieran werden auch die Verbote von Leerverkäufen in der EU überhaupt nichts ändern.

Krisenpolitik in der Aporie
Fakt ist aber auch, dass eine Einstellung der schuldenfinanzierten Konjunkturprogramme zu einer Konjunkturflaute führt, die in Stagnation und Rezession mündet. Das Beispiel konjunkturellen Entwicklung der USA illustriert diesen Vorgang seht gut. Als Mitte 2010 die meisten Maßnahmen des amerikanischen Konjunkturpaketes in Höhe von rund 800 Milliarden US-Dollar ausliefen, warnte etwa die Los Angeles Times, dass mit den verschwindenden staatlichen Konjunkturausgaben die „einzige verlässliche Quelle für den Brennstoff“ der US-Wirtschaft versickere – und tatsächlich lässt das statistische Zahlenmaterial eine deutliche Konjunkturabkühlung auf 2,5 Prozent bereits im dritten Quartal 2010 erkennen, gegenüber 3,8 Prozent im Vorquartal. Im vierten Quartal 2010 verlangsamte sich die amerikanische Wachstumsdynamik auf 2,3 Prozent, um dann anschließend in die bis jetzt andauernde Stagnationsphase einzutreten http, bei der die Wirtschaft kaum mehr wächst.

Somit befinden sich tatsächlich beide Seiten in dem finanzpolitischen Streit um die Ausgestaltung der künftigen Krisenpolitik bei ihrer Diagnose im Recht: Weitere Staatsverschuldung wird unweigerlich zum Staatsbanktrott oder zur Hyperinflation führen, ein Ende der staatlichen Verschuldung wird in die Rezession führen. Beide Parteien befinden sich aber auch auf dem Holzweg, wenn sie davon ausgehen, dass ihre „Therapien“, ihre Politikkonzepte die fundamentale Krise der Weltwirtschaft lösen könnten, die seit 2007 nur durch ausufernde staatliche Verschuldung prolongiert werden konnte.

Die Krisenpolitik befindet sich somit in einer Aporie, in einem unlösbaren Selbstwiederspruch, bei dem sie nur zwischen zwei unterschiedlichen Wegen in die Krise wählen kann: Die Politische Klasse kann systemimmanent nur zwischen weiterer Verschuldung bis zu Staatsbanktrott (mitsamt etwaiger Hyperinflation) wählen, oder den weg harter Sparprogramme einschlagen, die in Rezession mitsamt einsetzender Deflationsspirale führen, wie das Beispiel Griechenlands illustriert. Der durch drastische Sparmaßnahmen eingeleitete Wirtschaftseinbruch lässt in Griechenland übrigens die Verschuldung weiter anschwellen, weil einbrechende Steuereinnahmen und steigende Sozialaufwendungen die erzielten Einsparungen übersteigen. Die dramatische Entwicklung in Hellas widerlegt eindrucksvoll das obig dargelegte populistische Geblöke im Politik- und Pressebetrieb, das von einem „Leben über den Verhältnissen“ fabuliert, hierbei Volkswirtschaften gern mit Privathaushalten „schwäbischer Hausfrauen“ gleichsetzt und mit sadistischer Genugtuung immer weitere Kahlschlagprogramme für die pleitebedrohten Länder fordert. Überschuldete Volkswirtschaften werden bei der jetzigen Krise durchaus in den Staatsbanktrott gespart.

Diese Aporie der kapitalistischen Krisenpolitik – die eigentlich Haushaltssanierung und Konjunkturprogramme zugleich durchführen müsste – spiegelt sich in einer „doppelten Misere“ der Weltwirtschaft, wie Die Welt ausführte ausführte:

Es ist eine doppelte Misere: Weltweit mehren sich die Anzeichen, dass die Wirtschaft in einen Abschwung schlittern könnte. Gleichzeitig haben die Staaten kaum mehr Möglichkeiten gegenzusteuern. Sie haben sich in der Finanzkrise verausgabt.

Es ist kein Zufall, dass die finanzielle Erschöpfung der Staaten mit einer globalen konjunkturellen Flaute zusammen fällt. Die kreditfinanzierten Staatsausgaben bildeten seit dem Zusammenbruch der Immobilienblasen in 2007/2008 die wichtigste Konjunkturstütze. Die globalen Konjunkturprogramme erreichten etwa einen Umfang von nahezu fünf Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Hinzu kamen die gelpolitischen Maßnahmen, wie die Überflutung der Märkte mit „billigem Geld“ im Rahmen einer historisch einmaligen Phase von Nullzinspolitik. Damit wurden de facto im Zusammenspiel mit der Inflation Negativzinsen kreiert, die eine massenhafte Rückkehr von Kapital auf die Finanzmärkte beförderten. Dies trug entscheidend zur Herausbildung der Liquiditätsrally an den Aktienmärkten bei, die nun an ihre Grenzen stößt und nur mit immer neuen Versprechen einer Dollar-Flut prolongiert werden kann.

Die Weltfinanzmärkte befinden sich – nach der Hausse um Hightech-Aktien zu Beginn des Jahrhunderts und der Immobilienblase – derzeit in der dritten globalen Spekulationsblase innerhalb von nur zwei Jahrzehnten, die maßgeblich durch die Krisenpolitik initiiert wurde und zur kurzzeitigen Stabilisierung des Gesamtsystems beitrug. Um den stabilisierenden Charakter der derzeitigen Liquiditätsblase zu illustrieren, reicht ein Verweis darauf, dass etwa die US-Banken aufgrund der staatlich initiierten Blasenbildung längst die staatlichen „Bailouts“ zurückzahlen konnten, die ihnen auf dem Höhepunkt der Finanzkrise gewährt werden mussten. Zudem wird ja auch ein Teil der kapitalgedeckten Sozialsysteme durch Finanzmarktaktivitäten – etwa durch Rentenfonds – finanziert.

Überdies wandelten sich viele Notenbanken zu „Giftmülldeponien“ des Krisenkapitalismus, in denen faule Hypotheken genauso wie die eigenen Staatsanleihen deponiert worden. Dieses „Unter-den-Teppich-Kehren“ von Schuldtiteln wirkt ebenfalls kurzfristig systemstabilisierend. Staat und Finanzkapital sind in den führenden Industrieländern in einer innigsten Krisensymbiose aufgegangen, die beide Pole kapitalistischer Gesellschaftsverfassung aneinander kettet: Die Politik wendete Milliardenbeträge zur Stabilisierung des Finanzsystems auf und ließ Unmengen an faulen „Wertpapieren“ des Finanzsektors in den Bilanzen der Notenbanken parken, während der Finanzsektor diese kostspieligen Krisenmaßnahmen mit fortgesetzten Aufkäufen von Staatsanleihen finanzierte. Fallen die Staaten, dann fallen auch die Banken. Deswegen bemühen sich derzeit etwa deutsche Finanzinstitute auf Biegen und Brechen, ihre Exposition etwa in Italien zu verringern. Die Gerüchte um eine zu starke Exposition französischer Banken in Südeuropa – die einen rechtzeitigen Absprung offenbar verpassen – bildenden ebenfalls eine wichtige Triebfeder der jüngsten Börsenturbulenzen.

Kontinuität der Verschuldungsdynamik, die nur vom Finanzsektor auf den Staat übergegangen ist
Dennoch hat die politische Klasse der Industrieländer tatsächlich – im Gegensatz zu 1929 – den Krisenverlauf abgemildert und einen katastrophalen Einbruch bislang verhindert. Die „keynesianische“ Politik der Konjunkturprogramme und die expansive Geldpolitik waren somit im Rahmen ihrer Möglichkeiten durchaus erfolgreich, doch wurde damit der Weltwirtschaft nur eine Galgenfrist weniger Jahre erkauft. Die ausartenden und teuren staatlichen Krisenmaßnahmen, bei denen neben den Konjunkturpaketen Milliarden zur Stabilisierung der Finanzmärkte aufgewendet werden mussten, führten aber auch zu einem Formwandel der Krise, bei dem aus der Finanzkrise eine Staatsschuldenkrise wurde. Dies ist inzwischen auch dem Chefvolkswirt der Deutschen Bank aufgefallen:

Es ist immer noch dieselbe Krise. Am Anfang stand die Krise der amerikanischen Immobilienkredite, im Sommer 2007 folgte dann die Geldmarktkrise, die sich zu einer Bankenkrise ausweitete. Nach der Lehman-Pleite übernahmen die Staaten einen großen Teil der privaten Schulden und stemmten sich mit gewaltigen Konjunkturpaketen gegen die ausbrechende Wirtschaftskrise. Und so stehen wir – nach einer kurzen Zwischenerholung – nun mitten in einer Staatsschuldenkrise.

Wir haben es aber nicht nur mit einer Kontinuität der Krise, sondern auch mit einer Kontinuität der Verschuldungsdynamik zu tun, die von Finanzsektor auf den Staat überging. Der Chefökonom der Deutschen Bank teilt hier den Lesern der Frankfurter Allgemeinen Zeitung letztendlich mit, dass die Staaten ein schuldenfinanziertes Wirtschaftswachstum mittels „gewaltiger Konjunkturpakete“ aufrecht erhielten, das zuvor durch die Finanzmärkte vermittels der massiven Vergabe von „amerikanischen Immobilienkrediten“ generiert wurde. Die amerikanische Immobilienblase hatte – ähnlich den Spekulationen in Spanien, Irland, Großbritannien oder Osteuropa – durch die Stimulierung des Bausektors eine belebende Wirkung auf die Gesamtwirtschaft. Nach dem Platzen dieser Blase sprangen die Staaten in die Bresche und ließen statt neuer Eigenheime neue Autobahnbrücken oder Umleitungsstraßen errichten.

Fakt bleibt somit, dass der Kapitalismus ohne Verschuldung nicht mehr funktionieren kann. Sobald die kreditfinanzierte (staatliche oder private) Nachfrage wegbricht, setzt eine wirtschaftliche Abwärtsspirale ein, die in Stagnation und Rezession führt. Die vormals durch die Finanzmärkte organisierte Defizitkonjunktur bei der die Anhäufung von Schulden konjunkturbelebend wirkt, wurde somit nach Krisenausbruch verstaatlicht bis nun die Staaten selber an ihre finanzielle Belastungsgrenze stoßen. Der Kredit hielt in den vergangenen Jahrzehnten ein kapitalistisches System am Laufen, das zu produktiv für sich selber geworden ist. Nur noch mit massiver Kreditfinanzierung konnte noch die Nachfrage generiert werden, die für eine hocheffiziente Produktionsmaschinerie unabdingbar ist, welche mit immer weniger Arbeitskräften immer größere Warenberge ausstoßen kann.

Diese Krise der Arbeitsgesellschaft der Industriestaaten – die sich übrigens auch in China am Horizont abzeichnet – produzierte somit einerseits immer größere Warenberge, die nur dank massiver Verschuldung abgesetzt werden konnten, und zugleich eine Klasse an „Ausgestoßenen“ der Warengesellschaft, von „überflüssigen Menschen“, die keiner produktiven Verwendung in der Warenproduktion mehr zugeführt werden können. Es ist diese Klasse der „Ausgegrenzten der Moderne“ (Zygmunt Bauman), die ihre blinde Wut auf ein System, das sie in gesellschaftlicher Ausgrenzung einsperrt, jüngst in Großbritannien blindwütig zum Ausdruck brachte.

Dabei ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Krise der Arbeitsgesellschaft auch tief in die Mittelschichten hineinfrisst. Der globale Schuldenturmbau zu Babel kann nicht ewig fortgeführt werden: Der Kredit bildete ja ursprünglich einen Vorschuss auf künftige Einnahmen, die durch geschickte Investitionen des Kredits noch gesteigert werden sollten – seien es nun vermehrte Unternehmensgewinne oder staatliche Steuereinnahmen. Derzeit funktionieren die meisten Kredite nur noch als bloße Konsumkredite, als „lebenserhaltende Maßnahme“ für ein in Agonie befindliches System. Bei den immer häufiger ausbrechenden Börsenbeben beschleicht auch die „Märkte“ eine Ahnung davon, dass der Kapitalismus seinen Kredit aufgebraucht hat.

Der Kapitalismus funktioniert nur noch „auf Pump“, und dieses schuldenfinanzierte „Scheinleben“ der kapitalistischen Zombie-Ökonomie ist überhaupt erst durch die Expansion des Finanzsektors seit den 80er Jahren ermöglicht worden (Das Ende des „Goldenen Zeitalters“ des Kapitalismus und der Aufstieg des Neoliberalismus), weswegen auch alle Rufe nach einer effizienten Regulierung der Finanzmärkte verhallen müssen. Aus diesem regelrechten Systemzwang zur fortdauernden Verschuldung resultiert die Aporie kapitalistischer Krisenpolitik, die eigentlich zugleich Schulden aufnehmen und abbauen müsste. Die Staaten bilden somit das letzte Aufgebot des an seiner Hyperproduktivität kollabierenden Kapitalismus. Danach dürfte es Nichts mehr geben, was die Krisendynamik verzögern könnte. (Tomasz Konicz)

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