Auf nach Westen

„Junge Welt“, 30.11.2009

In vielen polnischen Regionen sind die Überweisungen von Arbeitsmigranten zu einem zentralen Wirtschaftsfaktor geworden

Polen sei einer der »weltweit führenden Exporteure von Arbeitskräften« und belege innerhalb der Europäischen Union unangefochten den Spitzenplatz bei der Arbeitsmigration – so lautete das Fazit einer Anfang November vorgestellten Studie, die sich mit den ökonomischen wie sozialen Auswirkungen der massenhaften Wanderung polnischer Arbeiter nach Westeuropa beschäftigte. Erstellt wurde die Untersuchung vom Consulting-Büro Capital One Advisers im Auftrag des Unternehmens Euro Tax, das sich darauf spezialisiert hat, polnische Arbeitsmigranten in Steuerfragen zu beraten. Längst bildet dieses Millionenheer der Gelegenheitsarbeiter und Tagelöhner einen einträglichen Markt, den findige Geschäftemacher zu bedienen suchen.

So wies Andrzej Jasieniecki, der Vizepräsident von Euro-Tax, bei der Vorstellung der Studie darauf hin, daß im vergangenen Jahr trotz Ausbruch der Weltwirtschaftskrise die Zahl der polnischen Arbeitsmigranten mit 2,21 Millionen nahezu unverändert hoch blieb. Seit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union stieg der Strom gen Westen rasch an. Schon 2004 arbeiteten mehr als eine Million Polen vorwiegend in den Billiglohnsektoren westeuropäischer Länder. 2006 waren es bereits 1,95 Millionen Menschen, bis 2007 mit 2,27 Millionen der vorläufige Höhepunkt erreicht wurde.

Für Euro-Tax sind in erster Linie die Verdienstmöglichkeiten der Arbeitsmigranten von Interesse. Auch hier konnte Jasieniecki einen enormen Anstieg konstatieren. Die Gesamteinkünfte der polnischen Wanderarbeiter in der EU stiegen von 12,6 Milliarden Euro 2004 über 19,1 Milliarden 2005 auf 27 Milliarden in 2006. Selbst im vergangenen Jahr stieg deren Vergütung noch auf 33,7 Milliarden Euro gegenüber 2007 leicht an, als Polens Migranten 33 Milliarden verdienten. Im Schnitt verdiente ein polnischer Arbeiter in der Europäischen Union 15200 Euro jährlich, so Jasieniecki.

Diese enorme Abwanderungswelle entlastete natürlich auch den polnischen Arbeitsmarkt und führte zu einem Anstieg des Lohnniveaus sowie der zeitweiligen Absenkung der Erwerbslosigkeit, die von über 20 Prozent vor dem EU-Beitritt zwischenzeitlich auf weniger als zehn Prozent sank – bis die Wirtschaftskrise in Polen wieder zu Massenentlassungen führte. Auch der von chronischer Wohnungsnot gekennzeichnete polnische Immobilienmarkt erfuhr aufgrund der massenhaften Auswanderung eine leichte Entspannung. Viele Arbeitsmigranten investierten überdies einen Teil ihrer Löhne in den Neubau oder Ausbau von Immobilien, was wiederum zur wirtschaftlichen Belebung des Bausektors beitrug.

Zu einer gewissen Entspannung der sozialen Lage in Polen, die insbesondere im Osten des Landes weiterhin durch krasse Massenarmut gekennzeichnet ist, trugen die Geldüberweisungen der Arbeitsmigranten an ihre Verwandtschaft bei. Im Jahr 2008 transferierten die polnischen Wanderarbeiter laut offiziellen Angaben der Polnischen Zentralbank insgesamt 5,1 Milliarden Euro in ihr Heimatland. Jasieniecki gab aber zu bedenken, daß diese offiziellen Zahlen zu niedrig angesetzt seien, da große Summen bei Heimreisen nach Polen direkt eingeführt würden.

Vor allem in den von umfassender Deindustrialisierung geprägten östlichen Wojewodschaften Polens avancierten diese Auslandsüberweisungen oftmals zur einzigen Einnahmequelle ganzer Familien. Nach dem Auslaufen der Arbeitslosenunterstützung sind die Erwerbslosen in Polen auf kommunale Leistungen angewiesen, die aber nicht einklagbar sind und schlicht vom finanziellen Spielraum der Kommune abhängen. Dies führt zu der paradoxen Situation, das gerade in den wohlhabenden Kommunen mit den niedrigsten Arbeitslosenquoten die stabilsten sozialen Sicherungssysteme vorhanden sind. In Regionen wie Masuren, wo die Erwerbslosenquote bereits über 20 Prozent erreicht hat, gibt es faktisch überhaupt keine Arbeitslosenhilfe.

Angesichts solcher Zustände verwundert es nicht, daß nur wenige polnische Arbeitsmigranten nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise in die Heimat zurückkehrten. Es meldeten sich nur »sporadisch« ehemalige Arbeitsemigranten in den polnischen Arbeitsämtern, schrieb die polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza Mitte November. Insbesondere auf den Britischen Inseln, wo die meisten polnischen Auswanderer leben, bemühten sich diese, »die Krise in Großbritannien zu überstehen,« wie die Financial Times berichtete. Konservative ­Medien und rechtsradikale Parteien wie die British National Party (BNP) schüren seit längerem entsprechende Ressentiments gegen die Tagelöhner aus Polen und Osteuropa, die oftmals beschuldigt werden, in Großbritannien Arbeitslosenunterstützung zu beziehen oder den Briten »die Arbeit« wegzunehmen. Auch in Irland, wo ebenfalls eine große polnische Diaspora existiert, mehren sich die ausländerfeindlichen Vorfälle. Anfang November schlug etwa der Bürgermeister der Stadt Limerick, Kevin Kiely, vor, alle Ausländer aus anderen EU-Staaten abzuschieben, die seit drei Monaten arbeitslos sind und für ihren Unterhalt nicht aufkommen können. »In den Zeiten der guten Konjunktur war es hervorragend«, Arbeitsmigranten aus den neuen EU-Ländern zu Niedriglöhnen zu beschäftigen, zitierte die polnische Presseagentur PAP den Bürgermeister, »doch jetzt können wir sie uns nicht mehr leisten.«

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