„Junge Welt“, 30.11.2009
Der Aufschwung ist da! Die größte Weltwirtschaftskrise der Nachkriegsgeschichte konnte nach Ansicht des geschäftsführenden Direktors des Internationalen Währungsfonds (IWF), Dominique Strauss-Kahn, bereits Anfang Oktober überwunden werden. »Die Weltwirtschaft hat die Wende geschafft«, erklärte Strauss-Kahn am 2. Oktober bei einer Pressekonferenz im Rahmen der Jahrestagung von IWF und Weltbank in Istanbul. In diesem Jahr werde nach Einschätzung des Währungsfonds die Weltwirtschaft noch um 1,1 Prozent schrumpfen, doch die Wachstumsprognosen für 2010 erhöhte der IWF bereits von 2,5 Prozent auf 3,1 Prozent.
Dennoch mußte auch der Währungsfond-Chef zugeben, daß der Kapitalismus sich zusehends zu einer äußerst exklusiven Angelegenheit entwickelt. Es bestünden weiterhin »Abwärtsrisiken« für die weltweite Wirtschaftserholung, insbesondere der Anstieg der Arbeitslosigkeit sei »besorgniserregend«. Diese werde nach Einschätzung des IWF-Direktors trotz einsetzenden »Aufschwungs« noch die nächsten »zehn bis zwölf Monate« global steigen. Folglich müßten die »konjunkturstützenden Maßnahmen« fortgeführt werden, um die Erholung nicht zu gefährden. Diese sei hauptsächlich auf die staatlichen Stützungsmaßnahmen zurückzuführen, betonte Strauss-Kahn. Da die private Nachfrage zu schwach sei, müsse die öffentliche dies ausgleichen.
Konjunktur auf Pump
In der Tat waren es vor allem die staatlichen Konjunkturpakete, die einen regelrechten Absturz der Weltwirtschaft in diesem Jahr verhindern konnten. Laut dem Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) beliefen sich die diesbezüglichen staatlichen Aufwendungen zur Stützung der stotternden kapitalistischen Verwertungsmaschinerie auf zirka drei Billionen US-Dollar, was in etwa 4,7 Prozent des Welteinkommens entspricht. Mit Konjunkturmaßnahmen in Höhe von 972 Milliarden US-Dollar sind allein die Vereinigten Staaten für 35 Prozent dieser globalen Gesamtausgaben verantwortlich, die immerhin 7,1 Prozent des US-amerikanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) entsprechen. In Relation zur eigenen Wirtschaftsleistung werden diese Aufwendungen aber von dem chinesischen Konjunkturpaket weit in den Schatten gestellt. Die 586 Milliarden US-Dollar, die Peking insgesamt zur Stützung der Wirtschaft aufwendet, entsprechen sage und schreibe 14 Prozent des chinesischen BIP – und tragen maßgeblich zu dessen weiterem rasanten Anstieg bei. China ist somit für 20 Prozent der globalen staatlichen Konjunkturausgaben verantwortlich. Die wirtschaftlichen Stimulierungsmaßnahmen der EU und Japans erreichen hingegen noch einen Anteil von jeweils zirka 15 Prozent an den weltweiten staatlichen Konjunkturausgaben.
Angesichts dieser teilweise gigantischen Aufwendungen scheint ein Wirtschaftswachstum, wie es beispielsweise in Japan oder den USA im vergangenen Quartal realisiert wurde, doch äußerst bescheiden. Für die Vereinigten Staaten wird ein Wachstum im dritten Quartal von 3,2 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum prognostiziert, in Japan legte bereits im zweiten Quartal das BIP um 0,9 Prozent zu. Selbst das rasante Wachstum Chinas von 8,9 Prozent im dritten Quartal 2009 relativiert sich unter Berücksichtigung dieser enormen – 14 Prozent des BIP umfassenden! – Konjunkturspritze.
Es dürfte klar sein, daß langfristig solch eine staatlich betriebene Defizitkonjunktur nicht aufrecht erhalten werden kann, da sie die betreffenden Staaten unweigerlich in den Bankrott treiben würde. Der IWF warnte beispielsweise bereits, daß Japans Staatsverschuldung im kommenden Jahr schwindelerregende 227 Prozent des BIP dieser zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt umfassen wird. Noch in diesem Jahr soll die Staatsverschuldung der Vereinigten Staaten Prognosen zufolge auf beinahe 13 Billionen US-Dollar ansteigen und somit nahezu 90 Prozent des BIP betragen. Allein im vergangenen Haushaltsjahr 2008/2009 konnte Washington ein Haushaltsdefizit von rund 1,4 Billionen US-Dollar anhäufen. Dieser US-Schuldenrekord bedrohe die Weltwirtschaft, titelte die Financial Times Deutschland Anfang Oktober. »Die Schuldenkrise«, zitierte das Blatt den Wirtschaftsprofessor John Taylor, »stellt ein größeres Risiko für das Wirtschaftssystem dar als die Finanzkrise«. Dem Stanford-Ökonomen entgeht offensichtlich die simple Tatsache, daß die sich zuspitzende Schuldenkrise nichts weiter als eine Folge der als »Finanzkrise« mißverstandenen Weltwirtschaftskrise ist.
Die große Geldflut
Ben Bernanke, derzeitiger Chef der US-Notenbank Fed, erhielt seinen Spitznamen »Helikopter-Ben« nach einer Vorlesung im Jahr 2002, während der er scherzhaft erklärte, notfalls Geld auch aus Hubschraubern abzuwerfen und so unter das Volk zu bringen, um einer drohenden Rezession und Deflation entgegenzuwirken. Die derzeitige expansive Geldpolitik der USA ist tatsächlich von diesem Szenario nicht weit entfernt. Neben den umfangreichen Konjunkturhilfen bildet eine regelrechte Geldflut, die sich vor allem aus den US-amerikanischen und chinesischen Notenbanken ergießt, eine weitere wichtige Triebkraft des derzeitigen Pseudoaufschwungs.
Insbesondere die US-Notenbank hat eine gewaltige Geldmenge in die Wirtschaft gepumpt. Die monetäre Basis – also das auch als Geldmenge »M 0« bezeichnete, von der Zentralbank in Umlauf gebrachte Geld – ist in den USA im Jahr 2008 um 75 Prozent gestiegen. Dabei gilt es zu berücksichtigen, daß 2008 der US-Leitzins noch zwischen vier und zwei Prozent lag. Erst im Dezember 2008 schaffte die Fed den Leitzins de facto ab, indem sie ihn auf 0,13 Prozent senkte. Das Wirtschaftsforschungsunternehmen Laffer Associates geht davon aus, daß die Geldmenge »M 0« folglich in diesem Jahr sogar um über 100 Prozent wachsen könne (siehe jW vom 24.11.2009, S. 9). Dies stellt historisch einen einmaligen Vorgang dar, weil selbst während der Inflationsperiode in den 70er Jahren die monetäre Basis der Vereinigten Staaten nie um mehr als 18 Prozent gestiegen war. Dieser Liquiditätsschub spiegelt sich auch im realen Bargeldumlauf (der Geldmenge »M 1«) wider, die – wohlgemerkt in der schwersten Rezession der Nachkriegsgeschichte – um 16 bis 18 Prozent innerhalb des letzten Jahres anschwellte. Wiederum sei hier darauf hingewiesen, daß selbst in 70er Jahren die Geldmenge »M 1« niemals um mehr als zehn Prozent binnen eines Jahres anwuchs.
In China scheint die expansive Geldpolitik auf den ersten Blick regelrecht exzessive Ausmaße erreicht zu haben, doch gilt es zu bedenken, daß die Volksrepublik immerhin noch ein stattliches Wachstum von nahezu neun Prozent im zweiten Quartal dieses Jahres verbuchen konnte. Dennoch steht ein Anschwellen der Geldmenge »M 1« um zeitweise bis zu 30 Prozent in diesem Jahr in keinerlei Verhältnis zu diesem Wirtschaftswachstum. In den vier Boomjahren bis Ende 2008, als China zumeist zweistellige Zuwachsraten beim Wirtschaftswachstum verzeichnen konnte, pendelte das Geldmengenwachstum nur zwischen 14 und 18 Prozent. Anders aber als in den USA legt im Reich der Mitte mit der Geldmenge auch die Kreditvergabe rasant zu. Allein im ersten Halbjahr 2009 vergaben die chinesischen Banken Kredite in Höhe von umgerechnet 736 Milliarden Euro – dies ist eine Verdreifachung des Kreditvolumens im Vergleich zum Vorjahreszeitraum! Da der chinesische Staat immer noch großen Einfluß auf die Kreditpolitik der Finanzinstitute hat, kann er die Kreditvergabe lenken und muß nicht unbedingt die Leitzinsen radikal senken. In China bildet sich somit eine klassische Defizitkonjunktur aus, bei der ausartende Verschuldung die Nachfrage stimuliert und die Konjunktur belebt. Genau dies Phänomen charakterisierte die Volkswirtschaft der Vereinigten Staaten vor dem Platzen der Immobilienblase.
Diese expansive Geldpolitik mitsamt enormen Konjunkturprogrammen wirken nicht nur in China als die wichtigsten Triebkräfte des derzeitigen Aufschwungs. Auch die europäische Zentralbank hat den Leitzins von mehr als vier Prozent auf nur noch ein Prozent im Rahmen der Krisenbekämpfung gesenkt. In Großbritannien beträgt der Leitzins inzwischen sogar lediglich 0,5 Prozent. Neben der rasant ansteigenden Staatsverschuldung, die inzwischen eine kaum noch aufrechtzuerhaltende Dynamik erreicht hat, wirkt mittelfristig auch diese expansive Geldpolitik destabilisierend auf das gesamte kapitalistische Weltsystem – bis hin zu einer durchaus möglichen Hyperinflation.
Staat verhindert Platzen …
Doch vorerst wirkt diese Geldflut wie eine Droge, die eine letzte, rauschende Spekulationsparty auf den Weltfinanzmärkten befördert. Das Grundprinzip hierbei ist relativ einfach: Sobald die Notenbanken nur genügend Geld ins System hineinpumpen, steigt irgendwo eine Spekulationsblase auf. Das Geldmengenwachstum »zwinge Investoren geradezu in den Aktienmarkt«, da sicheren GeldÂanlagen eine Entwertung drohe, kommentierte der Gründer des Marktforschungsunternehmens Sentix gegenüber dem ARD-Börsenmagazin die weltweit steigenden Aktienkurse. Dies ist auch ein Grund, weshalb es derzeit keine überhandnehmenden inflationären Tendenzen in der Realwirtschaft gibt – es findet schlicht eine Inflation der Wertpapierpreise auf den Börsen statt.
Die staatlichen Konjunkturprogramme mitsamt der expansiven Geldpolitik dienen vor allem dazu, die bereits seit Dekaden sich immer stärker ausprägende Defizit- und Spekulationskonjunktur in Staatsregie fortzuführen. Man könnte von einer Verstaatlichung der vormals durch private Verschuldung angefeuerten Defizitkonjunktur sprechen. Mit der seit der Jahrhundertwende etablierten globalen »Blasenökonomie« wird nach der Asienkrise (1997/98), der Dot-Com-Blase (2001) und der Immobilienbonanza (2007) mit der jüngsten Aktienrallye ein weiteres Kapitel aufgeschlagen. Doch es kann bereits jetzt als gesichert festgestellt werden, daß die »positiven«, konjunkturbelebenden Momente der derzeitigen Blasenbildung bei weitem nicht so ausgeprägt sein werden wie bei der zuletzt geplatzten Immobilienblase in den USA.
Der ehemals bei der US-Investmentbank Morgan Stanley als Ökonom tätige Analyst Andy Xie spricht in diesem Zusammenhang von einer globalen »Liquiditätsblase«, die ja aufgrund der expansiven Geldpolitik der Notenbanken im Steigen begriffen ist. Eine solche auf exzessiver Liquidität basierende Blase kann aber laut Xie nicht lange aufrechterhalten werden, da ihre »Multiplikatoreffekte auf die Gesamtökonomie begrenzt« seien. Die Wachstumsphase einer spekulativen Blase hängt demnach von ihrer Fähigkeit ab, die breite Nachfrage zu stimulieren. Am längsten könnten Xie zufolge Spekulationen mit neuen Technologien und im Immobiliensektor aufrechterhalten werden.
Insbesondere die gesamtökonomischen Auswirkungen der 2007 geplatzten Immobilienblase waren »vielfältig«, da sie Investitionen und Konsum in der realen Wirtschaft stimuliert. Auch die 2000 geplatzte »Technologieblase«, bei der die »Investoren die Auswirkungen einer neuen Technologie auf Unternehmensgewinne überschätzten«, führe vermittels übermäßiger Investitionen in den neuen, betroffenen Industriesektor zu einer ökonomischen Belebung. Bei der sich nun entfaltenden Liquiditätsblase bleibt die stimulierende Wirkung auf die reale Wirtschaft auf den »Wealth Effekt« (Reichtumseffekt) begrenzt, bei dem erfolgreiche Spekulationsteilnehmer während der Boomphase einer Blasenbildung einen Teil ihrer Spekulationsgewinne für Konsumausgaben aufwenden. Solche Blasen platzen sehr schnell, so Xie: »Zudem kann eine pure Liquiditätsblase ohne Unterstützung von seiten der Produktivität sehr schnell zur Inflation führen.«
Es ist somit klar, daß letztlich die expansive Geldpolitik der Notenbanken ein vollkommenes Platzen der jüngsten Immobilienblase verhindert und die gesamte spekulative Dynamik einfach in ein neues Spekulationsfeld überführt hat. Der Weltsystemtheoretiker Immanuel Wallerstein faßte diesen Prozeß in einem Interview mit dem russischen Fernsehsender RT genial zusammen: »Wir befinden uns immer noch in der Immobilienblase, sie ist noch nicht am Ende.« Die Stimulierungsmaßnahmen der US-Regierung, wie die enorme Kreditaufnahme und das »Drucken« von Geld, hätten einen Zusammenbruch der spekulativen Dynamik verhindert, der noch ausstehe: »Dann wird es einen richtigen Crash geben, wir sahen jetzt nur einen kleineren Einbruch, es wird eine Superdepression geben.« Diese Erschütterung werde mit einem Zusammenbruch des US-Dollar und einer »enormen Zunahme der Arbeitslosigkeit« einhergehen.
Ähnlich wie Georg Fülberth in jW vom 14. April 2009 sieht auch Wallerstein die Ursachen der derzeitigen Krise in der Ära der Stagflation in den 70ern, als eine hohe Inflation mit wirtschaftlicher Stagnation und Massenarbeitslosigkeit einhergingen (vgl. jW-Thema vom 20.1.2009). Das Wachstum des Finanzsektors führte scheinbar aus diesem Dilemma: »Wir haben eine Finanzkrise seit 30 Jahren. Etwa seit den 70ern machen die Leute hauptsächlich ihr Geld im Finanzsektor. (…) Das bedeutet, daß dies durch Spekulation geschieht. Und das wiederum bedeutet, daß die Menschen dazu gebracht werden, sich zu verschulden.« Die derzeitige Blase sei bereits die sechste oder siebte, so Wallerstein.
Die enorm zunehmende private Verschuldung in den letzten Dekaden – hauptsächlich in den USA, aber auch in Großbritannien, Spanien oder Osteuropa – wird also nun durch staatliche Verschuldung und expansive Geldpolitik ersetzt, die als Treibsätze zur Zündung der neuesten Spekulation und Defizitkonjunktur fungieren. Man kann hierbei von einem in Staatsregie durchgeführten »Blasentransfer« sprechen, wie er von der US-Geldpolitik in Reaktion auf das Ende der Spekulation mit Hightech-Aktien 2001 (Dot-Com-Blase) durchgeführt wurde. Damals senkte die Fed massiv die Zinsen – mit dem Resultat, daß durch die so geschaffene Liquidität die Spekulationsblase auf dem Immobilienmarkt erzeugt wurde.
… und initiert eine neue Blase
Die enorme Verstrickung des Staates bei der neuerlichen Blasenbildung, die von den in Agonie übergehenden Finanzmärkten aus eigener Kraft nicht mehr geleistet werden konnte, ist der Grund dafür, daß es sich um die letzte aller Spekulationsblasen handelt, wie Gerald Celente, Direktor des US-amerikanischen Trends Research Institute, im Gespräch mit dem Fernsehsender CNBC erläuterte: »Wir sehen gerade eine Bailout-Blase1, die viel größer als die Dot-Com-Blase und auch die Immobilienblase ist, aus der wir rauszukommen versuchen.« Die Politik habe »12,8 Billionen US-Dollar in der Pipeline, um ein scheiterndes System aufrechtzuerhalten«. Wenn diese Blase platze, »wird man sie nicht erneut inflationieren können, weil die Regierungsintervention so tief reicht«.
Dabei könnte sogar die von Celente genannte Summe nach einer von Neil Barofsky, dem Generalinspekteur des »Troubled Asset Relief Program« (Hilfsprogramm für angeschlagene Vermögenswerte), erstellten Studie sogar noch übertroffen werden. Die theoretische, maximal mögliche staatliche Bruttoexposition der USA, also der höchstmögliche Ausfall, der im Zuge der diversen Krisenbekämpfungsmaßnahmen und Stabilisierungsprogramme erreicht werden kann, beträgt demnach schwindelerregende 23,7 Billionen US-Dollar. So könnte das auf 700 Milliarden US-Dollar veranschlagte Hilfsprogramm zum Aufkauf fauler Kreditverbriefungen sogar auf bis zu drei Billionen Dollar anwachsen. Der US-amerikanische Einlagensicherungsfonds könnte dem Bericht zufolge schlimmstenfalls 2,3 Billionen US-Dollar zum Schutz der Kundeneinlagen insolventer Banken aufwenden. Rund um den zusammengebrochenen Hypotheken- und Immobilienmarkt könnten sogar 7,2 Billionen US-Dollar fällig werden.
Beim Platzen der derzeitigen Liquiditätsblase dürften etliche dieser astronomisch hohen Verpflichtungen, die der US-amerikanische Staat eingegangen ist, tatsächlich fällig werden. Ein in den Staatsbankrott taumelnder Staat wird schlicht nicht mehr in der Lage sein, erneut Unsummen zur Initiierung einer weiteren Spekulationsblase zur Verfügung zu stellen. Spätestens dann wird die derzeit latente Systemkrise des Spätkapitalismus sich mit voller Wucht entfalten. Eine Ahnung davon haben selbst die Finanzakteure, wie Forbes am 23. Oktober berichtete: Die US-amerikanischen Finanzinstitute würden demnach Geld in schwindelerregendem Ausmaß horten, obwohl die Politik diese ausdrücklich ermuntere, die Kreditvergabe zu intensivieren. Diese Rücklagen belaufen sich demnach bereits auf mehr als eine Billion US-Dollar.
Die Banken handeln einfach im Rahmen der kapitalistisch-betriebswirtschaftlichen Binnenlogik, da sie – ungleich ihren chinesischen Konkurrenten – nicht von der Politik zur Kreditvergabe verpflichtet werden können. Kein Kreditinstitut wird einer von massiven Nachfrageeinbrüchen und chronischen Überkapazitäten geplagten Wirtschaft nach dem Gießkannenprinzip Kredite vergeben, solange es hierzu nicht genötigt wird.
Dies führt letztlich zu der Frage, warum diese doch stark von keynesianischen Politikvorstellungen geprägte Krisenreaktion nicht die gewünschten Ergebnisse zeitigt. Befürworter massiver Konjunkturprogramme gehen ja immer noch davon aus, daß die reale, warenproduzierende Industrie im Kern »gesund«, also widerspruchsfrei sei und daß im produzierenden Gewerbe keinerlei größere Probleme zu verorten sind. Bis weit in die Linke hinein ist immer noch der Glaube verbreitet, daß es der in spekulativen Exzessen verfangene Finanzsektor war, der die warenproduzierende Wirtschaft in den Abgrund gerissen hat. Die staatlichen Konjunkturspritzen werden als eine Art »Starthilfe« für den Motor der Warenproduktion angesehen, der hiernach wieder von allein ordentlich brummen werde.
Die Macht der Produktivkräfte
Dabei wird in der öffentlichen Diskussion ignoriert, daß dieser nun schlappmachende Motor der Industrie einen Kolbenfresser in Gestalt der Krise der Arbeitsgesellschaft hat. Je offensichtlicher die ihre Produktionspotentiale beständig steigernde Wirtschaft nicht mehr in der Lage ist, auch nur annähernd Vollbeschäftigung herzustellen, desto verbissener hält die öffentliche Debatte am Ziel der Vollbeschäftigung fest – und sei es durch Billiglohn und Zwangsarbeit.
Um sich diesen Komplex zu verdeutlichen, lohnt ein näherer Blick auf die vom sowjetischen Ökonomen Nikolai Dmitrijewitsch Kondratjew begründete Theorie der »langen Konjunkturwellen«, für die der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter 1938 den Begriff der »Kondratjew-Zyklen« formte. Hierbei handelt es sich um einen dekadenlangen konjunkturellen Metazyklus, der von neu entstandenen Schlüsselindustrien getragen wird, die neue Felder der Kapitalverwertung und Massenbeschäftigung kreieren. Einer Periode des Aufschwungs (Phase A) folgt eine Zeit des Abschwungs (Phase B), in der Produktivitätssteigerungen die Profitrate und Massenbeschäftigung in diesen neuen Schlüsselindustrien wieder sinken lassen. Seit Anbeginn der Industrialisierung hätten wir es also mit Metazyklen zu tun, die jeweils auf dem Ausbau der Textilindustrie und später der Schwerindustrie, der Elektrobranche und Chemieindustrie fußen – oder eben auf die Massenmotorisierung zurückzuführen sind. Sobald durch fortschreitende technische Entwicklung die Massenbeschäftigung in einem älteren Sektor nachließ, entstanden durch denselben wissenschaftlich-technischen Fortschritt neue Industriezweige, die die »überschüssige« Arbeitskraft aufnahmen.
Immanuel Wallerstein beschrieb kürzlich das Dilemma, in dem sich die Weltwirtschaft seit 30 Jahren befindet, anhand dieser Kondratjew-Zyklen: »Die Welt kam 1945 aus der letzten Kondratjew-B-Phase (also einem Abschwung – T. K.), um dann in die stärkste A-Phase (einen Aufschwung – T. K.) in der Geschichte des Weltsystems einzutreten. Diese erreichte ihren Höhepunkt zwischen 1967 und 1973, dann begann der erneute Abschwung. Diese B-Phase dauert viel länger als alle früheren B-Phasen, und wir befinden uns immer noch in ihr.«
Systemkrisen treten dann ein, wenn die von einem bestimmten Industriezweig generierte Massenbeschäftigung aufgrund von Rationalisierungsmaßnahmen abflaut, während sich noch keine neuen Beschäftigungsfelder in neuartigen Industrien aufgetan haben – und hier kommt unsere »Krise der Arbeitsgesellschaft« ins Spiel.
Spätestens ab Mitte der 80er Jahre setzt ein weiterer Innovationsschub innerhalb der kapitalistischen Ökonomie ein. Diese industrielle Revolution in der Mikroelektronik und Informationstechnologie steigert die Produktivität ganzer Industriezweige in vorher ungeahnten Dimensionen. Natürlich entstehen auch Arbeitsplätze in der Computer- und Telekommunikationsbranche. Demnach fungieren diese Sektoren gerade nicht als »Schlüsselindustrien« im Sinne Kondratjews. Diese schaffen ja vor allem dadurch Investitions- und massenhafte Beschäftigungsmöglichkeiten, daß sie in Wechselwirkung mit anderen Industriezweigen treten und dort ebenfalls stimulierend und belebend werden. Sehr gut kann man das am Aufbau des Eisenbahnnetzes im späten 19. Jahrhundert oder an der Massenmotorisierung erkennen, die ja vielfältigste ökonomische Impulse zeitigten. Auch die mikroelektronische Revolution der 80er Jahre wirkte sich auf die gesamte Ökonomie aus, doch dies vor allem mittels massenhaften Abbaus von Arbeitsplätzen: durch Rationalisierungs- und Automatisierungsmaßnahmen werden große Teile der klassischen Industriearbeiterschaft schlicht überflüssig. Die Rechnung ging nicht auf. In den neuen Hightechbranchen entstehen weit weniger Arbeitsplätze, als in den »alten« Industrien obsolet werden. Dem Massenheer der Industriearbeiterschaft folgt keines aus Programmierern, Informatikern oder Webdesignern.
Diesen kapitalistischen Selbstwiderspruch lösten bis vor kurzem – scheinbar – die Finanzmärkte. Doch sobald die seit ungefähr 30 Jahren beständig weiter ausartende Spekulations- und Verschuldungsdynamik erlahmt, droht die reale Wirtschaft, das von reaktionären Kapitalismuskritikern fetischisierte »schaffende Kapital«, an seinen eigenen Widersprüchen zu kollabieren. Die kreditgenerierte Nachfrage bricht dann zusammen, und die ungeheuren Produktionskapazitäten der Industrie führen dann in einer verhängnisvollen Abwärtsspirale zu immer neuen Massenentlassungen, welche die Massennachfrage immer weiter reduzieren. Gerade das exzessive Wuchern der Finanzmärkte hat die unter einer latenten Überproduktion leidende reale Wirtschaft durch schuldengenerierte Nachfrage am Leben gehalten.
Es ist somit der stürmisch vom Kapitalismus vorangetriebene Fortschritt der Produktivkräfte, der die Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise unterminiert. Dies ist die klassische revolutionäre Situation, wie sie Marx im Vorwort »Zur Kritik der politischen Ökonomie« vor 150 Jahren dargelegt hat: »Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen. (…) Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolutionen ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um« (MEW 13/S. 9).
Anstatt sich manisch in einem ideologischen Dickicht von Verschwörungstheorien zu verlieren, sollte die antikapitalistische Linke diese – aus der Widerspruchsdynamik der kapitalistischen Produktionsweise resultierende, und nicht etwa durch eine »Verschwörung angelsächsischen Finanzkapitals« herbeigeführte – Perspektive eines drohenden Zusammenbruchs des kapitalistischen Weltsystems ins Auge fassen und endlich die berühmte Leninsche Frage auf der Höhe des 21. Jahrhunderts stellen: Was tun?