Zwei Wege im Schla­massel

China reguliert und Argentinien de­reguliert in der Krise

Inflation oder Deflation? Marktextremismus oder Staatskapitalismus? Argentinien und China illustrieren die verschiedenen Verlaufsformen, die die Weltkrise des Kapitals nehmen kann.

06.05.2024, Veröffentlicht im iz3w-Heft 402

Sei umarmt, Marktchaos! Dies scheint das inoffizielle Motto des rechtslibertären Präsidenten Argentiniens, Javier Milei, zu sein. Der selbsternannte Anarchokapitalist und Liebhaber seiner Hunde, geklonte Vierbeiner, die er nach libertären und rechtsextremen Ökonomen benannte, unterzieht Argentinien gerade einer extremen Austeritätspolitik. Die zweitgrößte lateinamerikanische Volkswirtschaft weist eine der weltweit höchsten Inflationsraten auf. Anfang 2024 erreichte sie über 200 Prozent.

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Milei gewann die Präsidentschaftswahlen im Herbst 2023 mit dem Versprechen, diese Teuerungsdynamik zu brechen sowie die defizitäre keynesianische Staatswirtschaft, die diese Preisexplosion mit ihrer expansiven Geldpolitik befördere, durch einen extremen, unregulierten Marktkapitalismus zu ersetzen.

Auf in den Spätneoliberalismus

Es ist eine Extremform der oftmals als »Schocktherapie« bezeichneten neoliberalen Krisenprogramme, die Argentinien umsetzt. Deregulierung und Privatisierung werden mit massiven ‚Sparprogrammen‘ sowie einer restriktiven Geldpolitik gekoppelt. Das soll der bisherigen Defizitfinanzierung mittels Notenpresse, die vom staatsgläubigen argentinischen Linksperonismus betrieben wurde, ein Ende setzen. Kurz nach der Amtsübernahme ließ Milei die künstlich überbewertete Landeswährung Peso um 50 Prozent gegenüber dem Dollar abwerten. Dies löste einen zusätzlichen Inflations- und Entwertungsschub der Geldeinkommen aus. Die Inflation schoss zur Jahreswende auf 250 Prozent. Zugleich wurden die Subventionen für Transport und Energie gestrichen. Milei, der im Wahlkampf oft mit einer Kettensäge auftrat, um seine Bereitschaft zu extremen Haushaltskürzungen zu demonstrieren, ließ überdies die Hälfte der Regierungsministerien auflösen und sogar das Staatstheater schließen. Einzig Polizei und Armee – Milei pflegt gute Beziehungen zu Zirkeln der ehemaligen Militärjunta – blieben vom Kahlschlag verschont.

Aufgrund der rabiaten staatlichen Subventions- und Ausgabenkürzungen konnte der argentinische Staat im Januar tatsächlich einen Haushaltsüberschuss verzeichnen. Aber der damit verbundene Nachfrageeinbruch führt zu einer Rezession, durch welche die Steuereinnahmen einbrechen. Eine deflationäre Krisenspirale zeichnet sich ab, wobei der Wert der Waren sinkt und der des Geldes steigt; die Preise sinken und die Inflation geht unter null Prozent. Das hat den Effekt des ‚sich in die Staatspleite Sparens‘. Laut Prognosen soll Argentiniens Bruttoinlandsprodukt (BIP) im ersten Quartal 2024 um 7,8 Prozent schrumpfen, der Internationale Währungsfonds (IWF) geht von einer Rezession von 2,8 Prozent im Gesamtjahr 2024 aus. Immerhin ist die Inflation – nach der kurzfristigen Explosion im Gefolge der Peso-Abwertung – rasch zurückgegangen. Im Februar lag die monatliche Teuerungsrate bei 15,3 Prozent, während sie im Januar 20 Prozent, und im Dezember sogar 25 Prozent betrug. Dennoch ist das ein wirtschaftspolitischer Pyrrhussieg, da diese ‚Schocktherapie‘ nur einen Wandel der Verlaufsform der Krise befördert: von der Inflation zur Deflation, bei der nicht das Geld, sondern vor allem die Ware Arbeitskraft real entwertet wird.

Die Löhne und Renten erfahren gleichzeitig einen massiven Wertverlust, da sie langsamer steigen als die weiter beträchtliche Inflation. Allein Ende 2023, im Gefolge der Peso-Abwertung im Dezember, sind die Reallöhne in Argentinien im Schnitt um 14 Prozent gegenüber dem Vormonat eingebrochen. Zeitgleich gingen die Rentenausgaben des Staates Anfang 2024 um 40 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zurück. Die Lohnverluste führen in Wechselwirkung mit den Sozial- und Subventionskürzungen zu einer regelrechten Explosion des Pauperismus: Die Zahl der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben müssen, ist von 40,1 Prozent im ersten Halbjahr 2023 auf 57,4 im Januar 2024 gestiegen. Der soziale Fallout des neoliberalen Kettensägenmassakers dürfte aber erst im Jahresverlauf voll zum Tragen kommen. Die Architektinnen dieser Schocktherapie hoffen, dass der Kahlschlag rasch umgesetzt und die Rezession schnell überwunden wird. Schneller, als dass die Unterstützung für Milei aufgrund der Verelendung der Mittelklasse einbricht. Anfang 2024 unterstützte laut Umfragen noch eine knappe Mehrheit der inflationsmüden Argentinierinnen den Kurs des zusehends autoritär agierenden Präsidenten. Diese Hoffnungen erscheint illusionär – zumal der Peso immer noch gegenüber dem Dollar überbewertet ist und die nächste Entwertungsrunde ansteht.

Der Anarchokapitalist im Präsidentenamt sieht sich mit einer wachsenden Opposition – vor allem der Gewerkschaften hinsichtlich der angestrebten Arbeitsmarktderegulierung – und judikativen wie legislativen Rückschlägen konfrontiert, bei denen Gerichte Präsidialdekrete für rechtswidrig erklärten und Parlament wie Senat Milei’s Ermächtigungsgesetze ablehnten. Bislang führten diese Rückschläge zur Verschärfung der konfrontativen Haltung Mileis. Der rechtslibertäre Präsident, der auch bei Streitfragen wie dem Abtreibungsrecht, der Klimapolitik oder der Haltung zur argentinischen Militärdiktatur rechtsextreme Positionen vertritt, scheint für den Fall des Scheiterns seiner Schocktherapie mit einer autoritären Wende zu liebäugeln.

Der chinesische Sonderweg …

Der autoritäre chinesische Staatskapitalismus beschreitet hingegen andere Krisenwege. Während in Buenos Aires ein verwilderter, ins Rechtsextreme abdriftender Spätneoliberalismus Millionen offen ins Elend stürzt, bemüht sich Peking nach Kräften, die Fassade zu wahren. Chinas Funktionseliten betreiben faktisch Krisenverschleppung. Die ungehinderte Krisenentfaltung, wie sie Argentinien – in der Hoffnung auf den Neustart im Gefolge schöpferischer Zerstörung – verheert, will Peking bislang verhindern. Der informelle Pakt zwischen Parteiführung und Bevölkerung, bei dem Wohlstand mit politischer Passivität erkauft wird, verlangt das von der Regierung.

Paradigmatisch hierfür ist der Umgang der chinesischen Führung mit der steigenden Jugendarbeitslosigkeit, die laut offizieller Zahlen im Juni 2023 bei 21,3 Prozent lag. Nach der Veröffentlichung dieser hohen Quote stellte das Statistische Amt seine Informationen zur Jugendarbeitslosigkeit für ein halbes Jahr ein, bis im Januar 2024 deren Senkung auf 14,9 Prozent gemeldet werden konnte. Dieser Erfolg wurde durch Änderungen der Berechnungsgrundlage erreicht (was an identische Manipulationen bei westlichen Arbeitslosenstatistiken erinnert): So gelten etwa unterbeschäftigte Jugendliche, die nur eine Stunde pro Woche arbeiten, nicht mehr als arbeitslos. Diese Tendenz zur Schönfärberei scheint auch bei der Berechnung des Wirtschaftswachstums zu steigen. Während die Zeitung Financial Times Schätzungen für 2023 mit einem BIP-Zuwachs von 1,5 Prozent veröffentlicht, beträgt die offizielle Prognose in China 5,2 Prozent.

Auch der Umfang der chinesischen Staatsverschuldung ist unklar, was auch mit der Existenz eines großen Sektors von Schattenbanken, also Finanzunternehmen jenseits des regulären Bankensystems, zusammenhängt. Ein neuer Schuldenberg wurde vor allem im Rahmen der gigantischen Immobilienblase in der staatskapitalistischen Volksrepublik akkumuliert. Laut offizieller Zahlen beträgt die chinesische Gesamtverschuldung inzwischen rund 287 Prozent des BIP. Allerdings ist China nicht im Ausland verschuldet, wie es Argentinien mit rund 283 Milliarden Dollar ist. Das verschafft Peking einen weitaus größeren wirtschaftspolitischen Manövrierraum. Die chinesische Schuldenblase ist hausgemacht: Sie wurde durch die umfassenden Konjunkturmaßnahmen nach dem Platzen der transatlantischen Immobilienblase in den USA und Teilen Europas initiiert. In dieser Situation konnte Peking mittels gigantischer Investitionsprogramme die einbrechende chinesische Exportkonjunktur kompensieren. Seitdem bildet nicht mehr der Export, sondern der spekulativ aufgeblähte Immobiliensektor die wichtigste Stütze der chinesischen Konjunktur, der nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 20 und 30 Prozent zum BIP der Volksrepublik beiträgt (so genau weiß man es wohl auch in Peking nicht).

Unstrittig ist, dass die konjunkturellen Effekte des langjährigen Investitions- und Immobilienbooms, der seit dem Krisenschub von 2008 als zentraler Konjunkturmotor fungierte, nachlassen. Zugleich nimmt der negative Fallout der deflationierenden Spekulationsblase zu und die Aufwendungen zur Stabilisierung des maroden Immobilien- und Finanzsektors steigen. Chinas Mittelklasse investierte ihre Ersparnisse zu 70 Prozent in Betongold. Solange die Immobilienpreise in absurde Dimensionen stiegen und die Baukonzerne mehr Kapital einnahmen als zur Baufinanzierung notwendig war, schien das Wachstum grenzenlos. Doch nachdem die Preise sanken und die neuen Anlagegelder nicht mehr ausreichten, um die steigenden Verbindlichkeiten der Bauunternehmen zu decken und Peking anfing, der Finanzsphäre die Liquidität abzudrehen, taumelt der gesamte Immobilienmarkt am Rand des Kollapses herum.

… in den autoritären Krisenkapitalismus

Es ist ein gigantisches Pyramidenspiel, das die Dimensionen der westlichen Immobilienblase, deren Platzen 2008 dieses erst initiierte, weit übersteigt. Millionen von Kleinanlegerinnen aus der Mittelklasse sind dabei, ihre aus Bauruinen in Geisterstädten bestehenden Immobilienanlagen zu verlieren. Dabei haben allein die beiden pleitebedrohten Baukonzerne Evergrande und Country Garden einen Schuldenberg von 500 Milliarden Dollar akkumuliert. In Hongkong – wo beide Baugiganten an der Börse gelistet sind – wurde die Abwicklung von Evergrande angeordnet, doch ist die Vollstreckung dieses Beschlusses in China (ein ähnliches Verfahren wurde von Gläubigern auch gegen Country Garden angestrengt) unwahrscheinlich. Peking kann sich aus Gründen politischer Stabilität schlicht nicht erlauben, Millionen von Kleinanlegerinnen zu ruinieren, da dies den informellen, auf Wohlstandsgarantien basierenden Pakt zwischen Partei und Bevölkerung aufkündigen würde.

Dabei stellen Evergrande und Country Garden nur die berüchtigte Spitze des Schuldenberges im Immobiliensektor dar. Peking muss dennoch die Fassaden einer Boomökonomie aufrechterhalten und Krisenverschleppung betreiben. Hierin wird auch die Unterlegenheit autoritärer staatskapitalistischer Systeme gegenüber der subjektlosen, durch Vermittlungsebenen von Politik, Markt und Justiz exekutierten Herrschaft des Kapitals in spätbürgerlichen Demokratien sichtbar. Die ‚Kommunisten‘ Chinas können es sich schlicht nicht leisten, einen kettensägenschwingenden Hitzkopf ins Präsidentenamt wählen zu lassen, der die sozialpolitische Drecksarbeit erledigt, bis er von der verarmten Bevölkerung wieder abgewählt wird.

Deswegen vollführte Peking jüngst eine wirtschafts- und geldpolitische Kehrtwende. Sie kommt einer Abkehr von den Bestrebungen zur kontrollierten Deflation der Immobilienblase gleich. China hat schon 2018 und 2020 versucht, die Spekulation auf dem heiß gelaufenen Immobiliensektor und in der Finanzsphäre durch eine restriktive Kreditvergabepraxis und Geldpolitik einzudämmen. Aber nun zwangen die zunehmenden politischen, konjunkturellen und finanziellen Erschütterungen Peking zur Rückkehr zu einer expansiven Geldpolitik. Im Januar 2024 wurden die Richtlinien für Kapitalreserven von Banken gelockert und die Kreditvergabe für eben diese Baukonzerne erleichtert, die durch jahrelange hemmungslose Kreditaufnahme gigantische Schuldenberge akkumulierten. Der Versuch, der chinesischen Mutter aller Spekulationsblasen den Geldhahn abzudrehen, wurde aufgegeben.

Die ‚Kommunistische‘ Partei ist praktisch zu einer Geisel der größten Immobilienspekulation der Menschheitsgeschichte geworden. Mitunter werden staatliche Bauunternehmen schlicht angewiesen, auch nicht profitable Immobilienprojekte fertigzustellen, um politische Instabilität zu minimieren. Ähnliches – wenn auch kleiner dimensioniert – vollzieht sich auf dem chinesischen Aktienmarkt, der aufgrund von Kapitalabflüssen starke Kurseinbrüche verzeichnete. Die Partei reagierte darauf mit Weisungen an Staatsfonds, auf den Märkten verstärkt Aktien zu erwerben, um so die Kurse zu stützen. Ob die KP Chinas diesen kostspieligen Kurs der Krisenverschleppung noch lange aufrechterhalten kann, ist angesichts der hohen Verschuldung der lokalen und kommunalen Körperschaften – die Gelder hauptsächlich durch Landverkäufe an Immobilienkonzerne einnahmen – mehr als fraglich.

Die krisenpolitischen Optionen des bizarren Finanzmarktstaatskapitalismus chinesischer Prägung werden zusätzlich eingeschränkt durch die sich verfestigende Deflationsdynamik. Während in Argentinien die Entwertung des Werts im Gefolge der Weltkrise des Kapitals die Verlaufsform der Inflation nahm, ist es in China die Deflation, die aus der einsetzenden Entwertung im Immobiliensektor und der Finanzsphäre (Börsen) resultiert. Im Januar 2024 sanken die Preise in China um 0,8 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum – den vierten Monat in Folge. Sollte sich die Deflationsdynamik verstetigen, droht der Volksrepublik eine verlorene Dekade, wie sie Japan nach dem Kollaps der japanischen Immobilienblase in den 1990er-Jahren durchlitt, als Nachfrageeinbrüche und Kaufzurückhaltung zur Stagnation führten. Deswegen weitete Peking im Februar seine Kehrtwende zur expansiven Geldpolitik mit einer Leitzinssenkung von 4,2 auf 3,95 Prozent aus – was aber auch zum abermaligen Anheizen des Spekulationsfeuers auf dem Immobiliensektor führen dürfte.

Unterschiedliche Krisenverläufe

Pekings Krisenpolitik besteht somit aus Krisenverschleppung und dem Management einer immer brüchiger werdenden, kulissenhaften Potemkin-Ökonomie. Diesem Ziel dient auch die seit dem Januar 2024 eingeleitete geldpolitische Kehrtwende. Die Stabilisierungsmaßnahmen der KP China scheint somit der Krisenpolitik in Buenos Aires diametral entgegenzustehen: China bekämpft eine Deflation, während in Argentinien die Inflation möglichst weit gedrückt werden soll. Argentinien buhlt um die Gunst der Auslandsgläubiger*innen und des IWF, während Peking mit den Folgen einer binnenökonomischen Schuldenblase kämpft. Der Anarchokapitalist Milei, verfangen in seinem pseudoreligiösen Kapitalkult, optiert für ein Ende mit Schrecken, für den Spar-Sadismus. Er hofft, mittels millionenfachen Leidens Läuterung in der Krise zu finden. Die ‚Kommunistische‘ Partei prolongiert hingegen den Schrecken ohne Ende. Dabei dominiert die Angst vor dem politischen Fallout eines Krisendurchbruchs in der chinesischen Potemkin-Ökonomie. Und dennoch sind dies nur unterschiedliche Krisenverlaufsformen in einem an seiner Produktivität erstickenden kapitalistischen Weltsystem, das sich schon seit Jahrzehnten nur noch mittels Blasenbildung und Schuldenmacherei reproduzieren kann.

Von Tomasz Konicz erschien zuletzt das E-Book »Faschismus im 21. Jahrhundert: Skizzen der drohenden Barbarei«.

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