Der Wahlsieg des selbsternannten Anarchokapitalisten Javier Milei wird von Rechtslibertären weltweit gefeiert. Erfolg hat dieser marktliberale Extremismus, weil andere Formen, die sich verschärfende Krise zu bewältigen, gescheitert sind – nicht nur in Argentinien.
jungle world, 14.12.2023 (hier leicht aktualisiert)
Endlich mal ein Revoluzzer, mit dem sich das deutsche Bürgertum anfreunden kann! Im hauseigenen Onlinesender schwärmt der Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt von den „radikalen“ Ideen des selbsternannten Anarchokapitalisten Javier Milei. Der libertäre neue Präsident Argentiniens wolle den Staat „auf ein Minimum“ reduzieren, den US-Dollar als argentinische Währung einführen und etliche Ministerien und die Zentralbank abschaffen – für freiheitsliebende Menschen sei Millei eine „Wohltat“. Bei jenen Argentiniern, die nicht auf „Geld vom Staat“ angewiesen seien, herrsche nun „große Freude“, hätten Bekannte Poschardts ihm aus Argentinien berichtet.
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Nicht nur Poschardt ist angetan. Elon Musk teilt ebenfalls begeistert die Ansprachen des neuen Präsidenten Argentiniens auf seinem Kurznachrichtendienst X, wo Musk zuletzt immer wieder seine Empfänglichkeit für Rechtsextremismus und Antisemitismus zur Schau gestellt hat. Der für seine krawalligen Auftritte bekannte Milei bat daraufhin den nicht weniger nach öffentlicher Aufmerksamkeit gierenden Musk um ein Treffen.
Vor wenigen Jahren blödelte sich Javier Milei noch in Superheldenverkleidung als „el General Ancap“ verkleidet durch Argentinien, jetzt wird er als Präsident die Geschäfte des Staats führen, den er radikal schrumpfen möchte. Anklang fanden seine Ideen vor allem bei der Jugend des ökonomisch zerrütteten Schwellenlandes. Anhänger hat er jedoch in der ganzen Welt. Kurz nach seinem Wahlsieg verbreitete Milei in sozialen Netzwerken unter anderem die ihm übersandten Glückwünsche des Ökonomen Philipp Bagus von der Universität Madrid. Der deutsche Ökonom sympathisiert mit rechtslibertären und anarchokapitalistischen Strömungen und ist in neoliberalen Institutionen wie dem Ludwig-von-Mises-Institut Deutschland, der Friedrich-August-von-Hayek-Gesellschaft und der Mont Pèlerin Society vernetzt.
Diese wirtschaftsliberalen Denkschulen inspirieren heutzutage einen verrohenden Neoliberalismus, der angesichts des Scheiterns neoliberaler Krisenverschleppung im Rahmen der globalen Finanzblasenökonomie ins weltanschauliche Extrem abdriftet. Insbesondere die deutsche Hayek-Gesellschaft kann als Brutstätte des wirtschaftsnahen Flügels der AfD bezeichnet werden. Beatrix von Storch ist ein langjähriges Mitglied, die AfD-Parteivorsitzende Alice Weidel trat 2021 aus, nachdem einige liberale Mitglieder den Verein aus Protest über die Dominanz von AfD-nahen Positionen verlassen hatten; nach Weidels Worten, „um eine völlig verfehlte Debatte“ zu beenden.
Bagus beschwört als wirtschaftsliberaler Extremist die totale Marktfreiheit gegen den krisenbedingt zunehmenden Etatitismus von „links oder rechts“; daneben finden sich bei ihm neurechte Verschwörungstheorien über die Covid-19-Pandemie – die Reaktionen auf diese analysiert er in einem Forschungspapier als „Massenhysterie“ – , den Klimawandel – die Maßnahmen gegen Covid seien ein „Trainingslager fürs Klima-Regime“, sagte er im Gespräch mit der Schweizer Weltwoche – und Invektiven gegen den Euro, die EU und zentralistisch organisierte „Staatsmoloche“. Für den Vermögensaufbau propagiert er den Kauf von Silber und Gold, wie in ihrer Gründungsphase auch die AfD.
Hinweise auf den ideologischen Hintergrund des argentinischen Präsidenten liefern dessen Hunde. Diese hat er klonen lassen und nach neoliberalen Ökonomen benannt, beispielsweise Milton (Friedman) oder Robert (Nozick). Der Hund Murray trägt den Vornamen des US-Ökonomen Murray Rothbard (1926–1995), der den Begriff Anarchokapitalismus geprägt hat. In der Nachkriegszeit trug Rothbard wesentlich zur Ausformung der Ideologie der libertarians bei, die den Sozialdarwinismus, der der liberalen Ideologie implizit innewohnt, offen aussprechen und gutheißen. Als noch extremerer Schüler von Ludwig von Mises (1881–1973), einer der wichtigsten Figuren der sogenannten Österreichischen Schule, ging Rothbard sogar dessen Konzeption eines Minimalstaats, der auf Polizei und Militär beschränkt ist, nicht weit genug; Rothbard sah vom Staat erhobene Steuern als ein Eigentumsdelikt an und propagierte ein uneingeschränktes Eigentumsrecht.
Als junger Mann unterstützte Rothbard Strom Thurmond, der als Gouverneur von South Carolina die sogenannte Rassentrennung verteidigte, später arbeitete er lange mit Ron Paul zusammen, dem rechten republikanischen Abgeordneten mit bekannter Abneigung gegen Israel, und wurde von den rechtslibertären Koch-Brüdern finanziert. 1992 pries Rothbard in einem Essay mit dem Titel „Right-Wing Populism: A Strategy for the Paleo Movement“ den ehemaligen Anführer des Ku-Klux-Klan, David Duke, und den hysterischen Linken-Jäger Joseph McCarthy als Beispiele für erfolgreiche Rechtspopulisten. Damals war Rothbard einer der Ideologen des sogenannten Paläokonservatismus, einer Bewegung, die ultrakonservative, nationalistische und wirtschaftslibertäre Positionen verband. Der Paläokonservative Pat Buchanan, der 1992 und 1996 erfolglos versuchte, republikanischer Präsidentschaftskandidat zu werden, wird oft als politischer Vorläufer Donald Trumps beschrieben.
Die kleinbürgerlich-reaktionäre Polemik der Anarchokapitalisten gegen das big business, die großen Konzerne, die im Bündnis mit der Staatsführung, big government, die heiligen Marktgesetze aushebeln, geht oft einher mit offenem oder verdecktem Rassismus. Neben dem New Deal, der die Grundlagen des US-amerikanischen Sozialstaats legte, lehnen sie auch vehement alle staatlichen Maßnahmen zur ökonomischen Förderung von benachteiligten Bevölkerungsgruppen ab. Dabei pflegen sie die Ursachen für die ökonomische „Performance“ von Bevölkerungsgruppen auf rassistische Weise zu erklären. Bei Rothbard, der gegen die etatistische „Herrschaft der Unterklasse“ wetterte, schlug der Staatshass oft in Gewaltphantasien gegen marginalisierte Bevölkerungsschichten um. Polizisten sollten „entfesselt“ werden, um gegen Wohnungslose vorzugehen, und gegen Verbrecher sofortige Bestrafung (instant punishment) praktizieren, so der Erfinder des „Anarchokapitalismus“.
Der rechtslibertäre buchstäbliche Extremismus der Mitte will Margret Thatchers Polemik, wonach es keine Gesellschaft, sondern nur Individuen gebe, wörtlich nehmen und in die Tat umsetzen. Auf die Klimakrise, die soziale Spaltung und den Demokratiezerfall reagieren die Rechtslibertären mit Forderungen nach noch mehr Marktkonkurrenz. Der Anarchokapitalismus ist, ähnlich der vor allem in Brasilien populären evangelikalen Bewegung, somit ein US-amerikanischer Exportartikel. Nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 bestimmten rechtslibertäre Ideen die Tea Party, die mit ihren populistischen Verschwörungstheorien den Weg für Donald Trump bereitete. Dieser gratulierte Milei auch prompt zu seinem Wahlsieg. Ähnlich verhält es sich mit dem berüchtigten rechten Expräsidenten Brasiliens, Jair Bolsonaro, der, genauso wie der ungarische Rechtsausleger Viktor Orban, sogar zur Amtseinführung nach Buenos Aires eingeladen wurde.
Doch den Grundstein für den Erfolg Mileis legte die gescheiterte etatistisch-keynesianische Krisenpolitik in Argentinien. Wie viele Schwellenländer fand sich Argentinien nach dem pandemiebedingten Krisenschub und den Zinserhöhungen der Notenbanken in den Zentren des Weltsystems noch tiefer als zuvor in der Schuldenfalle wieder: Kapitalflucht, steigende Kreditkosten und fallende Einnahmen führten in eine schwere Wirtschaftskrise (Jungle World 3/2022). Diese versuchte der argentinische Staat durch eine expansive Geldpolitik zu lindern. Das Gelddrucken führte jedoch zu einem dramatischen Anstieg der Inflationsrate auf zuletzt rund 140 Prozent im Jahr.
Darunter litten vor allem verarmte Argentinier und solche, die keinen Zugang zu Staatsposten oder -geldern in einem zunehmend durch Nepotismus und Klientelpolitik geprägten Staatsapparat haben. Die absurd klingenden Ankündigungen Mileis, er werde die Notenbank auflösen, um anstelle des Peso den US-Dollar als Währung einzuführen, stießen deswegen vor allem bei jungen Argentiniern auf Zuspruch. Die Wirtschaftsliberalen konnten ja schon in den 80ern Maßnahmen für mehr Preisstabilität wie starke Kürzungen der Staatsausgaben als soziale Wohltat preisen – und schließlich ist der US-Dollar faktisch schon das inoffizielle Zahlungsmittel Argentiniens.
Die politische Wende in Argentinien wirkt damit wie eine extremere Form der neoliberalen Konterrevolution der achtziger Jahre. In den USA und anderen westlichen Ländern konnte der Neoliberalismus den Keynesianismus damals nur deswegen ablösen, weil dessen Rezepte während der Stagflationsperiode der siebziger Jahre gescheitert waren. Doch anders als damals die USA hat das überschuldete, periphere Argentinien nicht die Möglichkeit einer Krisenverzögerung durch Defizitkonjunktur und Blasenbildung auf den Finanzmärkten. Es droht nun ein Umschlagen des Modus der Krisenentfaltung, mit potentiell verheerenden Folgen für die Lohnabhängigen: von der keynesianischen Inflation in die Deflation. Als erste Maßnahme der nun anstehenden Schocktherapie wurde die Landeswährung Peso um mehr als 50 Prozent abgewertet, was einer massiven Enteignung aller Lohnabhängigen gleichkommt, die nicht über Grund und Boden, Produktionsstätten oder Sachwerte verfügen.
Die sich in Argentinien anbahnende gesellschaftliche Katastrophe spiegelt damit das grundsätzliche Problem heutiger bürgerlicher Politik wider, die angesichts der wachsenden Schuldenberge und des Entwertungsdrucks, welche die systemische Überproduktionskrise im neoliberalen Zeitalter generiert hat, nur zwischen unterschiedlichen Wegen in die manifeste Krise wählen kann. Der Aufstieg eines irrationalen libertären Extremismus, befördert von dreistelliger Inflation, zeigt dabei auf, das Gelddrucken und Konjunkturprogramme nicht das Allheilmittel sind, für das viele sie halten. Scheitern sie, droht ein Umkippen der liberalen Mitte in den Extremismus, der ihr von jeher innewohnt.
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