Kurz vor dem Flächenbrand

Die Eskalation im Nahen Osten könnte unwillentlich einen regionalen Großkonflikt in Gang setzen

akweb, 17.10.2023

Mehr als 1.300 tote Israelis – und ein diplomatischer Coup, der in Trümmern liegt. Die Amok-Offensive der Hamas war nicht nur in ihrer antisemitischen Zielsetzung, möglichst viele Jüdinnen und Juden umzubringen und die israelische Gesellschaft zu traumatisieren, erfolgreich. Der Gewaltexzess hat auch die Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien vorerst torpediert, die von Washington vermittelt wurde. Bis zur US-Wahl 2024 wollte die Biden-Administration die Normalisierung der Beziehungen zwischen ihren wichtigsten regionalen Verbündeten realisieren, was angesichts der Eskalation in Gaza kaum noch realistisch ist. Die Hoffnungen auf eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Jerusalem und Riad könnten zu einem weiteren »Kriegsopfer« werden, meldeten US-Medien wenige Tage nach Kriegsausbruch.

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Dabei baute diese jüngste Initiative auf längerfristiger diplomatischer Vorarbeit auf. Im September 2020 vermittelten die Vereinigten Staaten das sogenannte Abraham-Abkommen, in dessen Rahmen die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten sowie Bahrain eingeleitet wurde. Marokko und der Sudan haben sich diesem Normalisierungsprozess angeschlossen, der zur Etablierung diplomatischer Vertretungen in den beteiligten Staaten führte. Zuvor war Israel in der Region weitestgehend isoliert. Geschmiert wurde dieser Normalisierungsprozess unter Washingtons Schirmherrschaft durch umfassende ökonomische Anreize: Tourismus, bilateraler Handel, Investitionen und Waffengeschäfte. Mit dem damaligen Abschluss hoffte die rechte Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu auf diplomatische und wirtschaftliche Beziehung, ohne über den Status der palästinensischen Gebiete zu verhandeln. Der katarische Nachrichtenkanal Aljazeera berichtete aber auch ein Jahr nach der Unterzeichnung von Spannungen zwischen Israel und den Emiraten aufgrund der Palästina-Frage.

Diplomatische Uneinigkeit

Im Fall des sunnitischen Schwergewichts Saudi-Arabien, das den israelisch-arabischen Normalisierungsprozess irreversibel machen sollte, war Washington sogar bereit, am nuklearen Tabu zu rühren. Der wahabitischen Diktatur wurde nicht nur ein umfassendes Militärabkommen, sondern auch ein Atomprogramm in Aussicht gestellt. Es entspreche dem, »was die iranischen Erzrivalen entwickelt haben«, wie es US-Medien formulierten. Die kürzliche Annäherung an Israel versprach handfeste ökonomische und politische Vorteile im Nahen Osten, auch weil die Vormachtstellung in der Region umkämpft ist. Die traditionell dominanten Mächte des arabischen Raums, Ägypten und Saudi-Arabien, sehen sich inzwischen mit zwei mächtigen Konkurrenten, der Türkei und Iran, konfrontiert.

Die einträgliche Annäherung an Jerusalem erschien in etlichen arabischen Hauptstädten als ein gutes geopolitisches Gegengewicht zum Dominanzstreben Irans und der Türkei – bis zum Massenmord der Hamas. Sowohl die Regierung in Teheran als auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der die Hamas offen unterstützt, haben in der Gaza-Krise besonders scharfe Kritik an Israel und den USA geübt, um aus der Krise auf den arabischen Straßen politisches Kapital zu schlagen. Die autoritären Regime des arabischen Raums sehen in der Eskalation in Gaza somit auch einen innenpolitischen Unsicherheitsfaktor, da die hochschlagenden Emotionen und massiven Proteste gegen die harte israelische Militärkampagne dem islamischen Extremismus auftrieb verschaffen könnten.

In der Abschlusserklärung der Außenminister der Arabischen Liga vom 12. Oktober wurde »das Töten von Zivilisten auf beiden Seiten« verurteilt und die Wiederaufnahme des Friedensprozesses mit der PLO als »dem einzig legitimen Vertreter der Palästinenser« gefordert, so der Generalsekretär der Arabischen Liga, Hossam Zaki. Die Äußerung kann als indirekter Angriff auf die Legitimität der Hamas verstanden werden. Vorsichtig agierende Länder wie Jordanien, die sich mit Israel längst arrangiert haben, ließen etwa auf Betreiben Jerusalems die Grenze zum Westjordanland schließen. Amman widersprach zugleich Berichten, dass der US-Armee Militärbasen im Land zur Verfügung gestellt worden seien.

Die Emirate und Bahrain haben den Angriff der Hamas sogar direkt verurteilt. Selbst Syriens Diktator Baschar al-Assad, der nach dem langjährigen Bürgerkrieg nur noch einen Teil des Staatsterritoriums kontrolliert, dürfte angesichts der Brüchigkeit seines Staatsapparates kaum ein Interesse an einem Waffengang gegen Israel haben. Eine scharfe Verurteilung Israels stießen, neben Ankara und Teheran, auch Syrien und der Hamas-Finanzierer Katar aus. Aufgrund innenpolitischen Drucks wahabitischer Kräfte verurteilte auch Saudi-Arabien das militärische Agieren der israelischen Regierung und untermauerte damit auch verbal seinen Führungsanspruch in der arabischen Welt.

Eine direkte militärische Konfrontation mit Israel und den USA scheint selbst Iran vermeiden zu wollen. Während die Hisbollah Kriegsdrohungen gegen den jüdischen Staat im Fall einer Bodenoffensive in Gaza ausstieß, beeilte sich Teheran im Zuge öffentlicher Solidaritätserklärungen mit der Hamas, eine konkrete Beteiligung an den Planungen zu deren Terroroffensive zu bestreiten. Teheran scheint den schiitischen Korridor (Irak, Syrien, Südlibanon) nutzen zu wollen, um im Fall einer Eskalation mittels der Hisbollah einen Stellvertreterkrieg gegen Israel zu führen.

Selbst die berüchtigte Schiitenmiliz, die Teile des Libanon kontrolliert, scheint sich an ihre Ankündigung zu halten, nur im Fall einer Bodenoffensive anzugreifen. Niemand, der im arabischen Raum die zunehmend brüchige Staatsgewalt innehat, will den Krieg. Angesichts krisenbedingter Auflösungsprozesse in Staaten und Gesellschaften in der Region könnte er zu einem Flächenbrand werden.

Auftrieb für Hamas

Und dennoch nehmen die Spannungen in der Region krisenbedingt zu: etwa zwischen Ägypten und Israel. Ägypten weigert sich, Kriegsgeflüchtete aus Gaza aufzunehmen. Während die israelische Regierung in den Worten ihrer Armee deren Evakuierung auf den Sinai fordert, um freie Hand bei der Zerstörung der Hamas zu haben. Kairo will die unter Dauerbeschuss stehenden Bewohnerinnen Gazas, denen Israel die Versorgungslinien gekappt hat, hingegen durch humanitäre Konvois versorgen, die gemeinsam mit anderen arabischen Ländern wie Jordanien organisiert werden. Den eigenen Angriff auf den ägyptischen Grenzübergang zu Gaza will die israelische Armee als Warnschuss verstanden wissen, um dieses Vorhaben zu vereiteln. Kairo sieht hingegen jede Evakuierung von Palästinenserinnen aus dem Gaza-Streifen als eine ethnische Säuberung dieser Region an, als eine zweite Nakba, die um jeden Preis zu verhindern sei.

Inzwischen scheint die israelische Armee wegen dieser Spannungen dazu überzugehen, zuerst den Norden des Gazastreifens angreifen zu wollen. Dessen Einwohnerinnenschaft von rund 1,1 Millionen Menschen wurde am 13. Oktober aufgefordert, binnen 24 Stunden in den Süden des Gazastreifens zu flüchten. Der schmale Landstrich ist eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt. Mehr als zwei Millionen Palästinenserinnen, autoritär von der Hamas beherrscht, befinden sich somit zwischen den Fronten dieses mörderischen Konflikts. Das Militärregime in Ägypten, das während des Arabischen Frühlings kurz vor der Etablierung einer Muslimbruder-Herrschaft stand, will keine Eskalation mit Israel. Dennoch treibt die Krise, der Streit um Millionen im Freiluftgefängnis Gaza festsitzender, in den Augen Ägyptens ökonomisch »überflüssiger« Menschen, das Land weiter in die Konfrontation und Destabilisierung.

Tatsächliches Interesse an einer Eskalation haben hingegen die »poststaatlichen« islamistischen Kräfte wie Hamas, die sich in Opposition zu den porösen arabischen Regimen sehen. Der Massenmord der Hamas an Kibbuz-Bewohnerinnen und Hippie-Raverinnen in Israel dürfte somit auch ein panarabisches Kalkül berücksichtigt haben: Die Normalisierung Israels im arabischen Raum wird hierdurch torpediert, der durch die Hamas erhoffte kriegsbedingte Druck der verelendeten Straße soll dem Islamismus Auftrieb verschaffen.

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