Putins Kriegswirtschaft

Jungle World, 23.08.2023

Der Wechselkurs des Rubels verharrt auf niedrigem Niveau, doch die russische Wirtschaft stabilisiert sich trotz der Sanktionen westlicher Staaten.

Russlands Ökonomie, die längst viele Züge einer Kriegswirtschaft trägt, sendet derzeit widersprüchliche Signale. Der Absturz der russischen Währung kontrastiert mit robusten konjunkturellen Daten, die auf eine ökonomische Stabilisierung der kriegführenden Großmacht deuten. Nach einer Rezession – das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ging um 2,1 Prozent zurück – im Jahr 2022 hat der Internationale Währungsfonds (IWF) seine Wachstumsprognose für Russland in diesem Jahr mehrmals angehoben – auf derzeit 1,5 Prozent. Die Bundesrepublik sieht der IWF hingegen 2023 mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 0,3 Prozent in einer leichten Rezession verharren.

Der konjunkturelle Aufschwung setzte im Frühjahr ein: Während sich Russland im ersten Quartal mit minus 1,9 Prozent noch in der mit Kriegsbeginn einsetzenden Rezession befand, wurde im zweiten Quartal ein kräftiges Wachstum von 4,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum erreicht. Zudem ist die offiziell registrierte Arbeitslosigkeit in der Russischen Föderation im Mai mit 3,2 Prozent auf den niedrigsten Stand seit 1991 gesunken, was faktisch einer Vollbeschäftigung gleichkommt und die Prognosen von einem kräftigen realen Lohnwachstum von 3,4 Prozent (trotz einer prognostizierten Inflation bis zu 6,5 Prozent in diesem Jahr) plausibel erscheinen lässt.

Diese, oberflächlich betrachtet, guten Wirtschaftsdaten scheinen im Widerspruch zu dem erheblichen Kurseinbruch der russischen Währung zu stehen, die gerade während dieser konjunkturellen Aufschwungphase gegenüber dem US-Dollar erheblich an Wert verlor. Zu Jahresbeginn waren zwischen 65 und 75 Rubel für einen US-Dollar zu zahlen. Der Wechselkurs gab bis Jahresmitte auf rund 80 Rubel nach, eine Tendenz, die sich im Juni, Juli und August weiter verstärkte, bis der Dollar 100 Rubel kostete. Nach einer Intervention der russischen Notenbank, die den Leitzins Mitte August von 8,5 aus zwölf Prozent anhob, konnte der Kurs vorläufig bei rund 95 Rubel stabi­lisiert werden.

Damit nähert sich Russlands schwindsüchtige Währung gefährlich den historischen Niedrigstwerten unmittelbar nach Beginn der russischen Invasion im März 2022, als der erste Schock der umfassenden Kriegssanktionen west­licher Staaten den Wechselkurs bis auf 130 Rubel pro Dollar abstürzen ließ. Hiernach schaffte es die russische Regierung durch staatliche Stützungsmaßnahmen und eine Diversifizierung der Rohstoffexporte, die Währung zwischen Mai und Dezember 2022 bei einem Kurs von 55 bis 60 Rubel pro Dollar zu stabilisieren, der sogar über dem Vorkriegsniveau von 70 bis 75 ­Rubel lag.

Wie passen nun der Wirtschafts­aufschwung und der abwärts rollende Rubel zusammen? Währungskurs­verluste deuten – gerade bei rohstoffexportierenden Nationalökonomien der Semiperipherie – für gewöhnlich darauf hin, dass es auch wirtschaftlich abwärts geht. Erhellend sind in diesem Zusammenhang vor allem die ökonomischen Folgen der Kriegsmobilisierung. Russland muss inzwischen als eine Kriegswirtschaft begriffen werden, auch wenn die Regierung sich immer noch um eine Fassade ziviler Normalität bemüht – während neue russische Mobilisierungsgesetze die Grundlage für eine weitere Kriegs­eskalation legen.

Nach den Fehlschlägen und Kata­strophen der frühen Kriegsphase, als ein großer Teil der russischen Militärausrüstung zerstört wurde, musste die Regierung die Produktion ihres militärisch-industriellen Komplexes stark ausweiten, um den immens steigenden Bedarf an der Front wenigstens ansatzweise zu decken. Die russische Militärindustrie bildet den einzigen inter­national konkurrenzfähigen Industriezweig des in der postsowjetischen Transformationsphase der neunziger Jahre weitgehend deindustrialisierten Landes. Der Krieg wirkt zumindest vorerst als eine Art Konjunkturprogramm, das auch die Nachfrage nach Arbeitskräften steigen lässt. Zur niedrigen Arbeits­losigkeit tragen die allgemeine demographische Krise in Russland, dessen Bevölkerung ein rasch steigendes Durchschnittsalter aufweist, sowie die Folgen der Teilmobilisierung bei, die Hunderttausende russischer Lohnabhängiger traf. Kriege führen oftmals zu Arbeitskräftemangel.

Zudem sorgt die weiterhin hohe Nachfrage nach Rohstoffen, Energieträgern, Grundnahrungsmitteln und Dünger auf dem Weltmarkt für stabile Deviseneinnahmen. Russland ist nicht nur der weltweit größte Gasexporteur und ein führender Erdöllieferant. Auch bei Nickel, Kohle, Uran, Kupfer, Aluminium und Palladium zählt die Russische Föderation zu den wichtigsten Produzenten. Überdies kann sie in diesem Jahr auf eine Rekordernte beim Getreide hoffen, dessen Export die Regierung längst geopolitisch instrumentalisiert. All diese Faktoren tragen – trotz der westlichen Sanktionen – zu einem stabilen Devisenzufluss bei, der wohl nur im Fall eines heftigen krisenbedingten Einbruchs der Weltmarktpreise versiegen würde.

Doch zugleich wird diese Kriegskonjunktur schlicht durch staatliche Defizitbildung aufrechterhalten, und sie schafft keine dauerhaften Folgeeffekte, wie es etwa im Fall staatlicher Investi­tionen im Rahmen des Auf- und Ausbaus neuer Industriezweige (etwa bei der Automobilproduktion des Kapitalismus in den Fünfzigern) der Fall wäre. Selbst der militärisch-industrielle Komplex Russlands ist marode und auf den Import westlicher oder chinesischer Hightech-Komponenten angewiesen ist, so dass diese sanktionsbedingt überteuerten Importe die Leistungs- und Handelsbilanz Russlands immer stärker belasten.

Schätzungen der russischen Zentralbank zufolge betrug der Leistungs­bilanzüberschuss der Russischen Föderation in der ersten sieben Monaten dieses Jahres nur noch 25,2 Milliarden US-Dollar, während es im Vorjahreszeitraum 165,4 Milliarden Dollar gewesen waren. Die höheren Transport­kosten und die Preisnachlässe, die Russland den neuen Importeuren russischen Erdöls wie China oder Indien bieten muss, führten zu diesem Einnahmeneinbruch.

Im selben Zeitraum bildete sich ein deutliches Haushaltsdefizit von 2,82 Billionen Rubel (umgerechnet 29,3 Milliarden US-Dollar), was in etwa 1,8 Prozent des russischen BIP entspricht. Im Vorjahreszeitraum war noch ein Überschuss von 557 Milliarden Rubel erwirtschaftet worden. Den um zwölf Prozent steigenden Haushaltsausgaben standen um 7,9 Prozent niedrigere Einnahmen gegenüber.

Zugleich mehren sich die Anzeichen für eine starke Kapitalflucht aus Russland. Von Februar 2022 bis Juni 2023 wurden nach Schätzungen der russischen Zentralbank rund 253 Milliarden Dollar aus Russland abgezogen. Allein 2022 erreichte der Kapitalabfluss mit 239 Milliarden (inklusive Abflüsse von 19 Milliarden vor Kriegsbeginn) einen Betrag, der rund 13 Prozent des damaligen russischen Bruttoinlandsprodukts entsprach. Das übertraf die Kapitalflucht der Krisenjahre 2008 (­Finanzkrise) und 2014 (Annexion der Krim), deren Umfang jeweils bei elf Prozent des BIP lag.

Diese Abflüsse sind – genauso wie die Rubelentwertung – auch Ausdruck der kriegsbedingt zunehmenden machtpolitischen Instabilität im russischen Staatsapparat, dessen Rackets und mafiöse Seilschaften verstärkt in Konkurrenz zueinander geraten. Der jüngste Entwertungsschub von rund 80 auf 100 Rubel pro Dollar setzte in der zweiten Junihälfte ein, als Jewgenij Prigoschin die von ihm gegründete Söldnertruppe Wagner in einen Aufstand führte, der die Fragilität des ­Putin-Regimes offenlegte.

Letztlich wäre es aber verfehlt, einen ökonomischen Zusammenbruch des russischen Angriffskriegs in der Ukraine zu erwarten. Autoritäre Regime und Diktaturen können weitaus größere soziale und ökonomische Härten verkraften als die erodierenden spätkapitalistischen Demokratien – allein schon durch blanke Repression. Deswegen gewinnt der Faschismus in Krisenzeiten an Attraktivität.

Nicht ausgeschlossen ist aber ein Szenario, das eine Weiterführung des russischen Angriffskriegs unmöglich machen könnte: eine Kombination aus militärischen Rückschlägen und Nachschubproblemen, Protesten und Unzufriedenheit wegen weiterer Mobilisierungen, sozialen und ökonomischen Härten sowie innenpolitischen Spannungen. Da Russland als Energie- und Rohstoffexporteur von der Konjunktur seiner Handelspartner abhängig ist, gibt es noch eine weitere Unbekannte in den Prognosen: den nächsten Krisenschub. Sollten sich die gegenwärtigen Turbulenzen auf dem maroden chinesischen Immobilienmarkt ausweiten und würden große Teile der vom chinesischen Kapital abhängigen Semiperipherie hiervon erfasst, dann würde das mittelbar auch Russland stark treffen.

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