Krieg und Getreide: Putins Rekordernte

27.07.2023

Russland hat das Abkommen zur Verschiffung von Getreide über das Schwarze Meer nicht mehr verlängert. Es hatte dazu beigetragen, die Getreidepreise zu stabilisieren und die weltweite Nahrungsmittelknappheit zu lindern.

Das russische Regime will nun wieder verstärkt Getreideknappheit zur politischen Erpressung benutzen. Nach rund einem Jahr ist das russisch-ukrainische Getreideabkommen, in dessen Rahmen ukrainisches Getreide sicher über das Schwarze Meer exportiert werden konnte, am 18. Juli an Russlands Weigerung gescheitert, es abermals zu verlängern. In den Tagen darauf folgten heftige russische Raketenangriffe auf die ukrainische Hafenstadt Odessa, bei denen schätzungsweise 60.000 Tonnen Getreide und vor allem für den Export notwendige Hafeninfrastruktur zerstört wurden – unter dem Vorwand, dort gebe es militärische Ziele. Zuletzt trafen am Montag russische Drohnen Getreidelager in der Stadt Reni an der Grenze zu Rumänien und Infrastrukturen einer kleineren Exportroute entlang der Donau, die ukrainische Unternehmen als Alternative zu den großen Seehäfen von Odessa aufgebaut hatten.

Die russische Schwarzmeerflotte vollführte überdies am Freitag voriger Woche ein Militärmanöver, bei dem der Beschuss von Schiffen geübt wurde. Dieser Eskalation war ein Angriff auf die strategisch wichtige Krim-Brücke vorangegangen, die das russische Festland mit der annektierten Krim verbindet. Die Ukraine, die alle besetzten Gebiete befreien will, hat bislang keine Beteiligung an dem Angriff bestätigt. Russische Regierungssprecher wiederum bestritten, dass es sich bei dem Rückzug aus dem Getreideabkommen um eine Vergeltungsaktion handele.

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Gegenseitige Vorwürfe

Der Kreml begründete seinen Schritt damit, die russischen Bedingungen zur Fortführung des Getreideabkommens seien nicht erfüllt worden. Demnach würden westliche Sanktionen, zum Beispiel der Ausschluss vom internationalen Swift-Zahlungssystem, es verhindern, die Zahlungen für russische Agrarexporte abzuwickeln. Aus der EU hieß es, dass Lebensmittel- und Düngemittelausfuhren ausdrücklich von den Sanktionen ausgenommen seien und etliche russische Banken zwecks Bezahlung von Agrarexporten weiterhin an Swift angeschlossen blieben.

Das Auslaufen des Getreideabkommens dürfte die ohnehin durch Klimakrise und Lieferengpässe beeinträchtigte globale Nahrungsmittelversorgung weiter verschlechtern. Die Weigerung, das Abkommen zu verlängern, ließ in westlichen Staaten Vorwürfe aufkommen, Russland setze „Hunger als Waffe“ ein. Aus dem Kreml hieß es, nur ein kleiner Teil der im Rahmen des Abkommens abgewickelten Exporte gelange in verarmte Regionen und Länder.

Entscheidend ist der Weltmarktpreis

Das Abkommen wurde im Juli 2022 unter Vermittlung der Vereinten Nationen und unter Beteiligung der Türkei geschlossen, um der exorbitanten Preissteigerung bei Grundnahrungsmitteln zu begegnen, die bei Kriegsausbruch einsetzte. Russland und die Ukraine sind wichtige Exporteure von Getreide, Speiseöl und Dünger; vor Kriegsausbruch ging ein großer Teil dieser Exporte gerade in hungerbedrohte Regionen der Semiperipherie und Peripherie des Weltsystems, etwa nach Ägypten, Bangladesh und Nigeria oder in den Senegal, den Jemen und den Sudan.

Dreimal wurde das Abkommen verlängert: einmal um 120 Tage, zweimal um jeweils 60 Tage. Handelsschiffe konnten so einen kampfhandlungsfreien Korridor im Schwarzen Meer nutzen, um Lebensmittel auszuführen. In Istanbul wurde zudem ein Überwachungsgremium aufgebaut, das aus Vertretern Russlands, der Ukraine und der Türkei zusammengesetzt war, um Waffentransporte zu verhindern.

Knapp 33 Millionen metrischer Tonnen Getreide und Lebensmittel wie Mais, Weizen und Speiseöl wurden in den vergangenen zwölf Monaten über das Schwarze Meer ausgeführt, wobei die Hauptabnehmer tatsächlich nicht zu den „Entwicklungsländern“ zählen: Der Löwenanteil ging nach China, gefolgt von Spanien, der Türkei, Italien und den Niederlanden. Die Vereinten Nationen schätzen, nur drei Prozent der ausgeführten Lebensmittel hätten den Weg in die ärmsten Regionen wie etwa Afghanistan gefunden. Auf sogenannte Entwicklungsländer (lower-middle-income countries) entfielen insgesamt nur 20 Prozent der Exporte im Rahmen des Getreideabkommens, während Länder mit hohen Einkommen 44 Prozent der Ausfuhren erhielten. Allerdings ist ein großer Teil der Weltbevölkerung in der ökonomisch abgehängten Peripherie des Weltsystems immer noch existentiell von der globalen Preisentwicklung abhängig. Im Kapitalismus ist der Weltmarktpreis für die Überlebenschancen gerade der verelendeten Bevölkerungsschichten entscheidend – und der hängt nicht zuletzt von der Angebotsmenge ab.

Afrika zwischen den Fronten

Wie effektiv hat das von Russland aufgekündigte Abkommen die Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel gesenkt? Ein Blick auf die Terminkontrakte der Warenterminbörse in Chicago gibt Auskunft über die Preisentwicklung bei Kriegsausbruch, als der ohnehin seit 2020 beständig steigende Weizenpreis Anfang März 2022 binnen weniger Tage von rund 800 auf mehr als 1.200 US-Dollar sprang. Ein ähnlich starker Anstieg fand auch bei anderen Grundnahrungsmitteln wie Mais statt. Diese rasante Preissteigerung, die durch die russische Blockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen, die Sanktionen gegen Russland und die übliche Kriegsspekulation auf den Terminbörsen befeuert wurde, kam erst im Juli 2022 zum Erliegen – gleichzeitig mit dem Inkrafttreten des Getreideabkommens. Seitdem hat sich der Weizenpreis stabilisiert. Nach der Aufkündigung des Abkommens ist er von 695 US-Dollar (21. Juli) auf bis zu 774 US-Dollar (24. Juli) hochgeschnellt, um hiernach wieder leicht abzufallen.

Das Abkommen hat somit tatsächlich zur Senkung der Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel beigetragen, wobei bislang eine erneute Preisexplosion wie im März 2022 ausgeblieben ist. Doch das heißt nicht, dass die Beschuldigungen der westlichen Staaten, Russland setze Hunger als Waffe ein, völlig aus der Luft gegriffen wären, da die ­Angebotsverknappung unweigerlich die Verelendung in der überschuldeten Peripherie des Weltsystems vorantreiben wird. Aus dem Außenministerium Kenias hieß es in einer informellen Stellungnahme eines hochrangigen Mitarbeiters, Russlands Rückzug aus dem Abkommen sei ein „Angriff auf die globale Nahrungsmittelsicherheit“, unter dem vor allem die dürregeplagten Länder am Horn von Afrika zu leiden hätten. Doch gerade afrikanische Staaten, die sich im Kriegsverlauf vielfach Russland annäherten, um ihre Nahrungsimporte zu sichern, nehmen das Ende des Getreideabkommens überwiegend schweigend hin.

Russland organisiert Ende Juli in Sankt Petersburg das zweite russisch-afrikanische Wirtschaftsforum, dem Dutzende Staatsoberhäupter Afrikas beiwohnen dürften. Insofern war der Zeitpunkt der Ausweitung der Kampfzone auf Grundnahrungsmittel Mitte Juli machtpolitisch geschickt gewählt. Kurz vor dem für den 27. und 28. Juli anberaumten Gipfeltreffen verlautbarte Putin auf der Website des Kreml, Russland sei in der Lage, „ukrainisches Getreide sowohl auf kommerzieller als auch auf unentgeltlicher Grundlage zu ersetzen“, zumal man dieses Jahr eine weitere „Rekordernte“ erwarte.

Auf diesem Gipfel dürfte die russische Regierung dazu übergehen, eine regelrechte Getreidediplomatie zu ­betreiben, bei der die Lieferungen von Grundnahrungsmitteln an afrikanische Länder von geo- und wirtschaftspolitischen Zugeständnissen abhängig gemacht werden. Vielen Ländern Afrikas dürfte nach dem Ende des Getreideabkommens nichts anderes übrigbleiben, als die Konditionen anzunehmen, die der Kreml setzen wird. Russland dürfte somit seine Stellung als führender Exporteur von Getreide, Dünger und Grundnahrungsmitteln weiter ­ausbauen sowie diese Exporte als geopolitisches Machtmittel in der durch Klimakrise und Versorgungsengpässe bereits hart getroffenen afrikanischen Peripherie des Weltsystems nutzen.

Russische Exporte steigen

Russlands Exporte von Getreide sind im Kriegsverlauf stark gestiegen: Zwischen Juli 2022 und April 2023 exportierte Russland rund 14 Millionen Tonnen Weizen in die Länder Afrikas, während es im gleichen Vorjahreszeitraum nur knapp zehn Millionen Tonnen waren. Selbst bei Sonnenblumenöl, einem der wichtigsten ukrainischen Agrarexportgüter, ist Russland dabei, die Ukraine zu überflügeln. Global scheint Russland sogar zum weltgrößten Exporteur von Weizen aufzusteigen. Prognosen zufolge wird die Russische Föderation in der Saison 2022/2023 rund 45 Millionen Tonnen ausführen, was einer Steigerung von 36 Prozent gegenüber dem Vorjahr gleichkäme. Die EU als zweitgrößter Exporteur soll auf 35 Millionen Tonnen kommen.

Der Kreml schickt sich somit an, seine imperiale Strategie zu erweitern: Nicht nur der Export und Vertrieb von Energieträgern wie Gas und Öl, sondern auch der Export von Grundnahrungsmitteln wird als geopolitisches Druckmittel eingesetzt. Agrarprodukte könnten angesichts der rasch voranschreitenden Klimakrise die Rolle einnehmen, die das Erdöl bislang innehatte.

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