Chaos statt Hegemonie

Jungle World, 20.04.2023

Die USA sind als Hegemonialmacht in der Krise, doch das bedeutet nicht, dass China sie beerben wird. Trotzdem könnten die autoritären Diktaturen in China und Russland die Zukunft des Kapitalismus darstellen.

Glaubt man den Deklarationen russisch-chinesischer Gipfeltreffen, dann wird das 21. Jahrhundert durch eine Ära chinesischer Hegemonie bestimmt werden. Bei bilateralen Moskauer Kriegsgipfel Mitte März sprach sich der russische Präsident Wladimir Putin für den »Aufbau einer gerechteren multipolaren Weltordnung« aus, die der Ära der US-Hegemonie ein Ende bereiten würde.

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Das Gerede von einer multipolaren Weltordnung ist die Ideologie all jener autoritären Staaten der Semiperipherie, die sich mittels imperialistischer Macht- und Kriegspolitik darum bemühen, die absteigenden USA zu beerben, um auf regionaler oder – wie China – sogar auf globaler Ebene eine ähnliche Vormacht oder Dominanz zu erringen, wie sie die Vereinigten Staaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts innehatten.

Die derzeitige Zunahme regionaler zwischenstaatlicher Konflikte ist Ausdruck dieser multipolaren Weltunordnung in einer globalen Krisenphase, in der es faktisch keinen Welthegemon mehr gibt. Ob es nun russische Imperi­alisten, iranische Mullahs oder türkische Neoosmanen sind – es ist vor allem Neid auf die schwindenden Machtmittel der USA, der ihren ideologischen Antiamerikanismus motiviert.

Die schwindende Macht erweist sich vor allem am US-Dollar. Als Weltleitwährung verschaffte dieser den USA die Möglichkeit, sich enorm zu verschulden, um so nicht zuletzt ihre Militärmaschinerie zu finanzieren. Wenn hingegen der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Notenpresse anwirft, dann steigt lediglich die Inflation im Land.

Deswegen sorgen die jüngsten währungspolitischen Abmachungen zwischen China, Russland und etlichen Staaten der Semiperipherie für Auf­sehen. Mitte März propagierte der chinesische Staatspräsident Xi Jinping bei einem Staatsbesuch in Riad eine Umstellung des Ölhandels mit Saudi-Arabien auf den chinesischen Yuan, um der »zunehmenden Umwandlung des Dollars zur Waffe« zu begegnen. Ähnliche bilaterale Währungsarrangements sind zwischen China und Brasilien, Pakistan sowie Venezuela im Gespräch. Die Financial Times warnte bereits im März, dass die westlichen Führungsschichten sich auf eine kommende »multipolare Währungsweltordnung« vorbereiten sollten, auch wenn der Dollar derzeit immer noch ganz klar die meistgenutzte Währung im inter­nationalen Handel ist.

Diese Tendenz zur Dedollarisierung kann nur vor dem Hintergrund des imperialen Abstiegs der USA im Rahmen des globalen Krisenprozesses richtig verstanden werden. Dadurch wird allerdings auch klar, wieso China nicht in der Lage sein dürfte, die Vereinigten Staaten als Hegemon zu beerben.

Der italienische Soziologe Giovanni Arrighi hat in seinem Werk »Adam Smith in Beijing« die Geschichte des kapitalistischen Weltsystems als eine Abfolge von Hegemonialzyklen beschrieben: Eine aufstrebende Macht erringt in einer von der warenproduzierenden Industrie geprägten Aufstiegsphase eine dominierende Stellung ­innerhalb des Systems, nach einer »Signalkrise« beginnt der imperiale Abstieg der Hegemonialmacht. In diesem Prozess gewinnt die Finanzindustrie an Bedeutung. Schließlich erfolgt die Ablösung des alten durch einen neuen Hegemon, der über größere Machtmittel verfügt.

Diese Abfolge kann sowohl im Fall Großbritanniens wie der USA empirisch nachvollzogen werden. Das Vereinigte Königreich und sein Empire, das im Rahmen der Industrialisierung im 18. Jahrhundert zur Werkstatt der Welt aufstieg, wandelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Weltfinanzzen­trum, bevor es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den ökonomisch aufsteigenden USA abgelöst wurde, die wiederum ihre Signalkrise während der Stagflation in den Siebzigern durchlebten. Hiernach setzte die Deindustri­alisierung der USA ein, die zu einer ökonomischen Dominanz des US-Finanzsektors führte. Die Verschuldung des absteigenden Hegemons beim imperi­alen Aufsteiger, die Arrighi ebenfalls thematisierte, kann sowohl im Fall Großbritanniens gegenüber den USA als auch anhand des steigenden Handelsbilanzdefizits der Vereinigten Staaten bei China festgestellt werden.

Der US-Dollar errang seine Weltstellung somit im Rahmen des fordistischen Nachkriegsbooms, als der Marshall-Plan im westlichen Teil des verwüsteten Europa auch die Hegemonie der Vereinigten Staaten begründete. Und es war gerade diese lang anhaltende Phase fordistischer Expansion, die das ökonomische Fundament der US-Hegemonie bildete. Mit dem Ende des Nachkriegsbooms in der Stagflationsphase, der Finanzialisierung und der Durchsetzung des Neoliberalismus wandelte sich die ökonomische Grundlage des westlichen Hegemonialsystems. Die sich immer weiter verschuldenden USA wurden in der sich zuspitzenden systemischen Überproduktionskrise gewissermaßen zum »Schwarzen Loch« des Weltsystems, das durch seine Handelsdefizite die Überschussproduktion exportorientierter Staaten wie China und BRD aufnahm – um den Preis voranschreitender Deindustrialisierung und Verschuldung. Das chinesische Regime hatte somit (genauso wie die Bundesregierung) allen Grund, die US-Hegemonie und den Dollar als Welt­leitwährung zu tolerieren, da ohne den US-amerikanischen Absatzmarkt der Aufstieg Chinas zur neuen »Werkstatt der Welt« nicht möglich gewesen wäre.

Und dennoch wird das 21. Jahrhundert aufgrund der sich entfaltenden so­zioökologischen Weltkrise des Kapitals wohl keine Epoche chinesischer Hegemonie mit sich bringen, der Yuan den US-Dollar nicht beerben können. Die von der Dominanz der industriellen Warenproduktion geprägte Aufstiegsphase der Volksrepublik erfolgte im Rahmen der besagten globalen Defizitkreisläufe, bei denen die Verschuldung im Westen die Nachfrage für die chinesische Exportwirtschaft generierte. Diese Phase endete mit dem Krisenschub von 2008. Mit dem Platzen der Immobilienblasen in den USA und Europa gingen die extremen chinesischen Exportüberschüsse zurück (mit Ausnahme des Handels mit den USA), während die gigantischen Konjunkturpakete, die die Regierung in Peking damals zur Stützung der Wirtschaft auflegte, das Wesen der chinesischen Konjunktur veränderten: Der Export verlor an Bedeutung, die kreditfinanzierte inländische Bauwirtschaft und der Immobiliensektor bildeten fortan die zentralen Triebfedern des Wirtschaftswachstums.

Somit hat China offensichtlich seine Signalkrise, die den Übergang zu einem finanzmarktgetriebenen Wachstumsmodell markiert, schon 2008 hinter sich gebracht. Chinas Wachstum läuft also ebenfalls auf Pump, die Volksrepublik ist ähnlich hoch verschuldet wie die absteigenden westlichen Zentren des Weltsystems. Die chinesische Defizitkonjunktur bringt noch weitaus größere Spekulationsexzesse hervor, als es in den USA oder Westeuropa der Fall war, was die Krisen auf dem auf­geblähten chinesischen Immobilienmarkt 2021 evident machten. Ökonomisch hat der hegemoniale Abstieg der Volksrepublik aufgrund der globalen Systemkrise somit bereits eingesetzt, obwohl sie ihre Hegemonialposition geopolitisch noch gar nicht erringen konnte.

Dies wird gerade bei den außenpolitischen Ambitionen Chinas evident, wo mit der »Neuen Seidenstraße« ein ehrgeiziges globales Entwicklungsprojekt initiiert wurde, das sich am Vorbild des Marshall-Plans orientierte – und das der Volksrepublik die erste internationale Schuldenkrise bescherte. Von den rund 838 Milliarden US-Dollar, die China bis 2021 zum Aufbau eines auf das Land zentrierten Wirtschafts- und Bündnissystems in Entwicklungs- und Schwellenländern investierte, sind im Zuge des gegenwärtigen Krisenschubs (wegen Pandemie und Ukraine-Krieg) der Financial Times zufolge rund 118 Milliarden ausfallgefährdet.

Derzeit ist kein globale Konjunkturerholung in Sicht, sondern nur Überschuldung und Inflation. China wirkt somit aufgrund seiner im In- und Ausland wankenden Schuldenberge, als ob es schon vor dem Erringen der Hegemonie im Abstieg befindlich wäre. Hinzu kommt die äußere, ökologische Schranke des Kapitals, da die Volksrepublik im Zuge ihrer staatskapitalistischen Modernisierung zum größten Emittenten von Treibhausgasen würde, was wegen der drohenden Klimakatastrophe einen ähnlichen Entwicklungsweg für weitere Länder des Globalen Südens ökologisch überaus zweifelhaft macht (auch wenn es geradezu obszön ist, aus den Zentren heraus dem Globalen Süden Verzicht zu predigen, ohne eine Entwicklungsalternative aufzeigen zu können). Der historische Hegemonial­zyklus des kapitalistischen Weltsystems wird somit überlagert vom sozioökologischen Krisenprozess des Kapitals selbst, er tritt mit ihm in Wechselwirkung und lässt Chinas hegemonialen Aufstieg und Abstieg ineinander übergehen.

Und dennoch ist vor dem Hintergrund der sozioökologischen Krise das Ringen zwischen dem russochinesischen Eurasien und dem Ozeanien der Vereinigten Staaten, bei dem die Ukraine und Taiwan das derzeitige beziehungsweise ein künftiges Schlachtfeld bilden, durchaus auch als ein Kampf zwischen Zukunft und Vergangenheit zu begreifen. Es ist ein Kampf zwischen der zu Ende gehenden Ära neoliberaler Krisenverwaltung und dem drohenden Zeitalter offen autoritärer Herrschaft, bei dem reaktionäre Mobilisierung und sozialer Zerfall in Wechselwirkung stehen, wie es geradezu paradigmatisch an der russischen Staatsoligarchie und Mafiaherrschaft sichtbar ist.

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