Globales Griechenland

Konkret, 11/2022

Der Inflation versuchen die Zentren des kapitalistischen Weltsystems mit Hochzinspolitik zu begegnen. Von Tomasz Konicz

Im gegenwärtigen Krisenschub, der nicht mehr einfach auf die Peripherie abgewälzt werden kann, intensiviert sich die Konkurrenz zwischen den Wirtschaftsstandorten in den Zentren des Weltsystems – auch innerhalb geopolitischer Allianzen. Wie es etwa um die unverbrüchliche deutsch-amerikanische Freundschaft bestellt ist, machte Anfang Oktober „Spiegel online“ deutlich, als das größte deutsche Nachrichtenportal den US-Dollar eine „ökonomische Massenvernichtungswaffe“ nannte. Die Vereinigten Staaten profitierten vom starken US-Dollar, da sie damit Inflation exportierten, während „der Rest der Welt“ zu leiden habe, jammerte „SPON“.

Mit den mehrmaligen Erhöhungen der Leitzinsen durch die US-Notenbank Federal Reserve (Fed), die schon im Dezember von 3,25 auf bis zu vier Prozentpunkte angehoben werden könnten, wertet der US-Dollar gegenüber anderen Währungen auf. Höhere Zinsen locken Kapital in den entsprechenden Währungsraum. Die Inflationsbekämpfung in den USA verschafft somit der Teuerung in anderen Währungsräumen Auftrieb, da der Greenback immer noch als Weltleitwährung fungiert, in der ein Großteil der Rohstoffe, Lebensmittel und Energieträger gehandelt werden. Je weiter der Dollar gegenüber dem Euro oder dem Pfund aufwertet, desto teurer werden Öl, Gas oder Lebensmittel in Europa und Großbritannien – selbst bei stabilen Weltmarktpreisen. Um diesen „Inflationsimport“ zu vermeiden, muss die Europäische Zentralbank (EZB) eigentlich nachziehen, was wiederum die kommende Rezession in der BRD und im Euroraum vertiefen dürfte.

Die Inflation gerät somit außer Kontrolle und eine Rezession zeichnet sich ab, während die in den neoliberalen Jahrzehnten vermittels der Finanzialisierung des globalisierten Kapitalismus akkumulierten Schuldenberge zusammenzubrechen drohen. Aufgrund dieser sich verstetigenden Stagflationstendenz im gegenwärtigen Krisenschub findet sich die Geldpolitik faktisch in einer Sackgasse wieder, die die Krisenkonkurrenz anfacht. Die politischen Funktionsträger können systemimmanent entweder die Option weiterer Gelddruckerei und Verschuldung bis zur Hyperinflation wählen oder den Weg harter Sparprogramme einschlagen, die in eine Rezession mitsamt einsetzender Deflationsspirale führen. Die Notenbanken müssten also die Zinsen zugleich senken und erhöhen – Ausdruck jener Ausweglosigkeit kapitalistischer Krisenpolitik, in der sich die kapitalistische Verwaltung der Systemkrise am Ende des neoliberalen Zeitalters befindet. In der Praxis kann dies auf eine Kombination aus Geldentwertung und Konjunkturmisere, also auf eine „Stagflation“ hinauslaufen, die aufgrund des weitaus größeren Krisenpotenzials ihr historisches Vorbild aus den 1970er Jahren bei weitem übertreffen dürfte.

Diese Krisenfalle, ursächlich befeuert durch das Fehlen eines neuen Akkumulationsregimes in der Warenproduktion, ist in allen kapitalistischen Zentrumsländern wirksam. Ihr Zuschnappen konnte bislang durch die Expansion der Finanzsphäre, durch permanent anschwellende Schuldenberge und immer neue Finanzmarktblasen hinausgeschoben werden. Ein Blick auf die langfristige Entwicklung der Leitzinsen zeigt diesen Selbstwiderspruch der Geldpolitik, der sich mit jedem Schub des historischen Krisenprozesses weiter entfaltete. Sowohl EZB als auch Fed haben in der historischen Tendenz ihre Leitzinsen immer weiter abgesenkt, wobei die großen Finanzkrisenschübe des 21. Jahrhunderts als auslösende Momente einer jeden Niedrig- oder Nullzinsphase fungierten. Mit Pandemie, Krieg und dem Platzen der gigantischen Liquiditätsblase, die nach dem Krisenschub von 2008 durch die Nullzinspolitik der Notenbanken aufgeblasen wurde, scheinen die Verschleppungsmechanismen bürgerlicher Politik erschöpft und die unausweichliche Entwertung des Werts bevorzustehen.

Der breit gefasste US-Aktienindex S&P 500 ist binnen eines Jahres – also in Reaktion auf die „Zinswende“ der Fed – von mehr als 4.700 Zählern auf 3.660 Punkte gesunken, was auf eine dauerhafte Erschöpfung des Finanzblasenkapitalismus und seiner „Inflation der Wertpapierpreise“ hindeutet. Es war übrigens dieser unverstandene Zusammenhang zwischen aufgeblähter Finanzsphäre und expansiver Geldpolitik, der den neokeynesianischen Gelddruck-Spinnern der „Modern Monetary Theory“ („Neue Geldtheorie“) Zulauf verschaffte. Mit dem Ende der Simulierung von Kapitalverwertung in der Finanzsphäre vermittels der Schaffung fiktiven Kapitals drängt nun die von den Notenbanken generierte Liquidität in die reale Wirtschaft. Das Platzen der Liquiditätsblase trägt somit, neben Krieg, Klimakrise und gestörten Lieferketten zur Inflation bei. Dass die Inflation nicht nur auf „Putins Wirtschaftskrieg“ zurückzuführen ist, wie es in EU und USA inzwischen in Spiegelung russischer Propaganda vom „bösen Westen“ heißt, macht ein Blick auf die jüngste Kerninflationsrate von 6,6 Prozent in den USA im September deutlich: Sie berücksichtigt Preise für Lebensmittel und Energieträger gerade nicht. So hoch lag dieser langfristige Teuerungsindikator seit 1982, seit dem (neoliberalen) Ende der Stagflationsperiode nicht mehr. (Die breit gefasste Inflation ist hingegen leicht von 8,3 auf 8,2 Prozent zurückgegangen.)

Zugleich schießen die Schulden der erodierenden spätkapitalistischen Staatsapparate auch in den Zentren des Weltsystems in absurde Höhen. Die Bank of England muss weiterhin täglich Staatsanleihen ihrer Regierung von bis zu zehn Milliarden Pfund aufkaufen, also faktisch Geld drucken, um eine manifeste Schuldenkrise in Großbritannien zu verhindern, dessen Währung in den vergangenen Monaten massiv gegenüber dem Dollar abwertete. Selbst in der BRD, die aufgrund ihrer Ausfuhrüberschüsse jahrelang Schuldenexport betreiben konnte, stiegen krisenbedingt die Staatsschulden binnen eines Jahres um zehn Prozent auf 2.321 Milliarden Euro. Die Vereinigten Staaten haben inzwischen einen Schuldenberg von 31 Billionen Dollar akkumuliert. Der entscheidende Unterschied zwischen den USA und zum Beispiel Griechenland besteht darin, dass dieser Schuldenberg in der Weltleitwährung akkumuliert wurde – und diese Stellung der US-Währung wird Washington bis zum bitteren militärischen Ende verteidigen müssen.

Die politische Klasse kann nur die Art und Weise dieses Entwertungsschubs wählen: Das Geld kann in seiner Eigenschaft als allgemeines Wertäquivalent entwertet werden (Inflation), oder der Entwertungsprozess erfasst das Kapital in seiner Gestalt als konstantes und variables Kapital: Dann werden Fabriken, Maschinen und Lohnabhängige plötzlich ökonomisch unrentabel oder „überflüssig“. Die Fed scheint immer mehr zu der zweiten Option zu neigen, indem sie – allen Friktionen in der US-Finanzsphäre zum Trotz – die Inflationsbekämpfung zur Priorität gemacht hat. Da Washington über die Weltleitwährung verfügt, bedeutet dies, dass der Entwertungsprozess teilweise exportiert werden kann. Und zwar durch eine Kombination aus Inflation und Rezession, die nicht nur die Peripherie, sondern auch die westlichen Zentren erfasst. Die Geldpolitik der dieser Staaten wird faktisch in einen Aufwertungswettlauf genötigt.

Die „Financial Times“ bemerkte Mitte Oktober, dass inzwischen alle Welt anfange, die „Fed zu hassen“, da der starke US-Dollar immer mehr „Opfer“ produziere. Inzwischen hat sogar Josep Borrell, der Außenpolitikchef der EU, in den Chor der Kritiker eingestimmt. Er zog einen Vergleich zwischen der derzeitigen US-Geldpolitik und den deutschen Spardiktaten nach Ausbruch der Eurokrise. Ein großer Teil der Welt sei nun in Gefahr, „zu einem Griechenland“ zu werden. Damit sprechen „Financial Times“ und Borrell aber nur die simple Tatsache aus, dass die eskalierende Konkurrenz den Modus bildet, in dem die Krisendynamik exekutiert wird. Und zumeist sind es die Zentren, die die Krisenfolgen auf die Peripherie abwälzen können. Schäuble sorgte seinerzeit unter lautem Beifall der deutschen Öffentlichkeit dafür, dass die sozioökonomischen Folgen der europäischen Schuldenkrise, die Ausdruck des systemischen Krisenprozesses war, nicht von deren deutschen Profiteuren, sondern von den südeuropäischen Krisenopfern geschultert werden mussten.

Nun jammert „Spiegel online“, dass dies in der gegenwärtigen Situation nicht mehr passieren kann. Denn die Krise ist so weit vorangeschritten, dass nun auch die Zentren von ihr in Gestalt einer Rezession (BRD) und/oder Schuldenkrise (Großbritannien) voll erfasst zu werden drohen. Dabei bildet die kommende Rezession in der BRD nur einen schwachen Abglanz der Verwüstungen, die der gegenwärtige Krisenschub in Gestalt der „Zinswende“ der Fed in der Peripherie anrichtet. Die Schwellenstaaten und „Entwicklungsländer“ sind nicht nur mit explodierenden Kreditkosten und den daraus resultierenden Schuldenkrisen, sondern auch mit den Folgen der Pandemie, des Krieges in der Ukraine, der die Lebensmittelpreise hochtrieb, und des Klimawandels ungleich schwerer konfrontiert als die EU oder die USA.

Die politische „Stabilität“ ganzer Regionen, deren verarmte Bevölkerung zunehmend mit blankem Hunger konfrontiert ist, steht auf dem Spiel. Es stelle sich die Frage, so die „Financial Times“, ob „die USA den Schlag abmildern“ wollen, der nun auf die Entwicklungsstaaten in Gestalt explodierender Zinsen zukommt. Unter Berücksichtigung aller ökonomischen, ökologischen und politischen Krisentendenzen hätten es die Länder des globalen Südens nun sogar schwerer als in den 80er Jahren, so das Wirtschaftsblatt, als die Fed zwecks Bekämpfung der Stagflationsperiode ab 1979 durch eine extreme Hochzinsphase große Schuldenkrisen und Wirtschaftszusammenbrüche in der Dritten Welt herbeiführte.

Doch diesmal dürfte die Krise auch jene Zentren treffen, denen sie aufgrund eines immer weiter hochgeschraubten Produktivitätsniveaus entstammt. Da angesichts von Inflation und Überschuldung (rund 356 Prozent der Weltwirtschaftsleistung) eine Prolongierung der Weltkrise selbst in den westlichen Zentren kaum noch absehbar ist und weil sie trotz gemeinsamer Front gegen Russland zunehmend in ökonomische Konkurrenz untereinander treten müssen, scheint ein Kollaps des Weltsystems in den Bereich des Möglichen zu rücken. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass der gegenwärtige Krisenschub nicht mehr abgefangen und in eine abermalige Blasenbildung überführt werden kann – und die von der Wertkritik prognostizierte Kernschmelze der spätkapitalistischen Weltwirtschaft unaufhaltsam ist.

Tomasz Konicz schrieb in konkret 10/22 über die Umverteilungskampagne der Linkspartei

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