The walking debt

Konkret 08/2022

Überschuldung, Inflation, drohende Rezession und ohnmächtige Politik: Der aktuelle Krisenschub dürfte auch die westlichen Zentren des kapitalistischen Weltsystems voll erfassen. Von Tomasz Konicz

Neue Dekade, neue Krise? Mitte Juni schien der europäische Währungsraum, der schon im Verlauf der Eurokrise am Rand des Zusammenbruchs stand, abermals in den Panikmodus zu schalten. Die Europäische Zentralbank (EZB) sah sich am 15. Juni zu einer Sondersitzung genötigt, nachdem die europäischen Finanzmärkte von steigenden Zinsabständen, sogenannten Spreads, zwischen deutschen und südeuropäischen Staatsanleihen betroffen waren. Insbesondere der Spread zwischen deutschen und italienischen Staatspapieren gilt als zuverlässiger Krisenindikator, da Italien als drittgrößte Volkswirtschaft eine hohe Staatsverschuldung von rund 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu verzeichnen hat (2019, vor Ausbruch der Pandemie, lag die Verschuldung des Landes bei 135 Prozent), was die Zinslast für italienische Staatsanleihen bei etwaigen Turbulenzen besonders schnell anwachsen lässt. Zudem weist Italien unterdurchschnittliche Wachstumsraten auf, so dass es kaum Aussichten darauf gibt, die Schuldenlast in absehbarer Zeit zu verringern. Die ohnehin regelmäßig nach unten korrigierten Konjunkturprognosen der OECD gehen für das Land von einem Wachstum von 2,5 Prozent in diesem und von nur noch 1,2 Prozent im nächsten Jahr aus.

Der italienische Anleihemarkt fungiert als eine Art Frühwarnsystem, das Mitte Juni kräftig anschlug: Die Rendite italienischer Staatsanleihen stieg auf mehr als vier Prozent, der Spread zur Bundesanleihe betrug zwischenzeitlich nahezu 250 Basispunkte (2,5 Prozent). Was war geschehen? Die EZB hatte zuvor in Aussicht gestellt, der US-Notenbank Fed zu folgen und der im Euroraum ausufernden Inflation von 8,1 Prozent mit einer monetären Wende hin zu einer restriktiven Geldpolitik zu begegnen. Die europäischen „Währungshüter“ kündigten also an, die faktisch seit elf Jahren, also seit der letzten Eurokrise verfolgte Nullzinspolitik aufzugeben und die Leitzinsen zu erhöhen. Zudem sollte ein schrittweiser Ausstieg aus den Aufkaufprogrammen für Staatsanleihen eingeleitet werden, mit denen die Zinslast im Süden gesenkt und die Geldmenge erhöht wird. Die bloße Ankündigung einer Abkehr von der expansiven Geldpolitik führte zu einem Anwachsen der Zinslast in der südlichen Peripherie der Eurozone.

Auf ihrer Sondersitzung beschloss die EZB daraufhin, notfalls die Anleihen „schwächerer Euroländer“ weiter aufzukaufen, um den Abstand zu den Bundesanleihen im erträglichen Rahmen zu halten, was umgehend zur Reduzierung des Risikoaufschlags zwischen italienischen und deutschen Staatspapieren führte. Ein Ziel der EZB besteht darin, ihre im Verlauf der Pandemie auf acht Billionen Euro angewachsene Bilanz, die sich vor Pandemiebeginn auf weniger als fünf Billionen Euro belief, durch Wertpapierkäufe nicht noch weiter aufzublähen. Die Einnahmen, die aus fälligen Staatspapieren erzielt werden, sollen nun bis Ende 2024 zum Aufkauf neuer Anleihen verwendet werden. Bei einem Volumen dieses Krisenprogramms von 1,7 Billionen Euro hat die EZB somit noch großen Spielraum, um etwa deutsche Anleihen durch italienische zu ersetzen. Aber damit nahm die Notenbank ihren Abschied von der expansiven Geldpolitik, die zum Zweck der Inflationsbekämpfung angekündigt worden war, in Teilen bereits wieder zurück.

Mit Italien droht nun ein Mitglied der Eurozone in die Schuldenkrise zu geraten, dessen Bruttoinlandsprodukt (BIP) rund zehnmal so hoch ist wie dasjenige Griechenlands. Allein im kommenden Jahr stehen südlich der Alpen staatliche Verbindlichkeiten in Höhe von nahezu 290 Milliarden Euro zur Refinanzierung an, während Hellas ein BIP von 180 Milliarden Euro aufweist. Aus diesem Grund ist es der Bundesrepublik als der dominanten Macht innerhalb der Eurozone faktisch unmöglich, Italien einem Austeritätsdiktat zu unterwerfen, wie es der ehemalige deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) Griechenland oktroyierte, ohne die Existenz des gesamten europäischen Währungsraums zu gefährden. Italien ist tatsächlich too big to fail. Würde also Berlin versuchen, das Land in eine ähnliche deflationäre Abwärtsspirale zu treiben wie einst Griechenland, käme das einer Sprengung der Eurozone gleich, wie sie schon während der Eurokrise von den offen reaktionären Teilen der deutschen Funktionseliten in FDP und am rechten Rand der CDU („Werteunion“) favorisiert wurde.

Derzeit schießt vor allem Bundesbankpräsident Joachim Nagel gegen die Krisenpolitik der EZB, wobei er die alte deutsche Forderung nach einer Kopplung von politischen Auflagen – zumeist Austeritätsprogrammen – mit Finanzhilfen für Krisenstaaten wiederholt. Nagel sprach angesichts der hohen Inflation von einem „gefährlichen Fahrwasser“, in das sich die EZB begebe, wenn sie Anleihen südeuropäischer Staaten aufkauft, sobald deren Zinsabstand zu Bundesanleihen ein spekulatives Niveau erreicht. Es sei überhaupt nicht eindeutig zu bestimmen, wie eine normale Marktreaktion auf die hohe Schuldenlast im Süden der Eurozone von einer spekulativen zu unterscheiden sei.

((Initial))

Der geldpolitische Schlingerkurs der EZB, der darin besteht, einerseits die Leitzinsen vorsichtig zu erhöhen und andererseits die Gelddruckerei durch Aufkäufe von Staatsanleihen fortzusetzen, ist Ausdruck der machtpolitischen Konstellation innerhalb der EU. Berlin, wo die Monetaristen das Sagen haben, bekommt seine Zinserhöhung, der Süden der Eurozone, der eine expansive Geldpolitik favorisiert, kann mit weiteren Anleiheaufkäufen rechnen. Deswegen geht die europäische Notenbank bei den Leitzinserhöhungen viel zögerlicher vor als die Fed, die den Leitzins bereits auf 1,75 Prozent anhob.

Deutsch-Europa steckt also zehn Jahre nach der Eurokrise abermals in einer Sackgasse: Die EZB müsste eigentlich die Zinsen rasch und deutlich anheben, um die Inflation einzudämmen. Und zugleich müssten die „Währungshüter“ die Zinsen niedrig halten, um eine neue Schuldenkrise im Süden zu verhindern und die drohende Rezession abzuwenden. Der Kampf um den geldpolitischen Kurs stellt dabei kein rein europäisches Phänomen dar, ähnliche Auseinandersetzungen zwischen Keynesianern und Monetaristen finden auch in den USA statt. Der Zusammenhang zwischen der großen pandemiebedingten Geldflut und der globalen Inflation wurde zuletzt etwa vor dem Finanzkomitee des US-Senats diskutiert, dem sich die Finanzministerin der Biden-Administration, Janet Yellen, Anfang Juni stellen musste. Die Rolle Berlins spielte die republikanische Opposition, die angibt, die Inflation und das „Überhitzen“ der Wirtschaft sei durch das 1,9 Billionen Dollar umfassende Konjunkturprogramm befördert wurden.

Dabei verweisen diese Debatten zwischen keynesianischen Befürwortern einer expansiven Geldpolitik und neoliberalen Monetaristen auf die zunehmenden inneren Widersprüche und Spannungen kapitalistischer Krisenpolitik, die im gegenwärtigen Krisenschub kaum noch überbrückt werden können. Und ein Akkumulationsmodell, das aus der Krise des Spätkapitalismus herausführen könnte – die Konjunkturprognosen für die USA wie für den Euroraum sind düster -, kann nicht einfach hervorgezaubert werden. Im Grunde haben beide Seiten in dem durch nationale oder klassenmäßige Interessen befeuerten geldpolitischen Konflikt mit ihren Diagnosen am Krankenbett des Kapitalismus durchaus recht, während ihre „Therapievorschläge“ falsch sind. Die expansive Geldpolitik lässt tatsächlich die Inflation ansteigen, wobei hier vor allem die Finanzsphäre in den Blick zu nehmen wäre, wo die „Liquiditätsspritzen“ der Notenbanken im 21. Jahrhundert zu den entsprechenden Spekulationsblasen, also zur Inflation der Wertpapier- oder Immobilienpreise führten. Zugleich führen Monetarismus samt neoliberalem Sparregime – wie es Schäuble an Griechenland in aller Brutalität exekutierte – zu den sattsam aus Südeuropa bekannten Wirtschaftseinbrüchen.

Die spätkapitalistische Krisenpolitik befindet sich also in einem Dilemma. Deflation oder Inflation: Es sind nur verschiedene Krisenwege, auf denen die unabänderliche Entwertung des Werts vonstatten gehen kann. Entweder wird das Geld in seiner Eigenschaft als allgemeines Äquivalent entwertet (Inflation), oder der Entwertungsprozess erfasst das Kapital in seiner Gestalt als konstantes und variables Kapital – als Fabriken, Maschinen und lohnabhängige Menschen, die ökonomisch überflüssig werden.

Im Verlauf des 21. Jahrhunderts sind nicht nur die globalen Schuldenberge schneller angewachsen als die Weltwirtschaftsleistung, auch das Zinsniveau ist seit dem Durchbruch des Neoliberalismus und der Finanzialisierung des Kapitalismus beständig zurückgegangen, da nach dem Platzen einer jeden Spekulationsblase das Weltfinanzsystem mit Niedrigzinsen und Gelddruckerei vor dem Kollaps bewahrt werden musste. Die aktuellen Verwerfungen auf den Finanzmärkten deuten darauf hin, dass der Übergang zu einem neuen Spekulationszyklus kaum noch möglich ist. Die kapitalistische Krisenpolitik hat ihren Gaul totgeritten. Und die Inflation, die vormals überwiegend in der Finanzsphäre spielte, kommt in der so genannten Realwirtschaft an.

Gerade das Scheitern des Keynesianismus Ende der siebziger Jahre ebnete dem Neoliberalismus den Weg, der mit einer Phase extrem hoher Zinsen (Volcker-Schock) die Inflation in den Griff bekam und den Grundstein für das Abheben der Finanzmärkte und die finanzmarktgetriebene Blasenökonomie des Neoliberalismus legte, die derzeit kollabiert. Die hohen Zinsen wirkten zu dieser Zeit wie ein Magnet, der anlagesuchendes Kapital in die US-Finanzsphäre lockte. Nun kehrt die längst vergessene Stagflation auf höherer Stufenleiter zurück. Der wichtigste Unterschied zwischen der heutigen Teuerungswelle und der historischen Phase der Stagflation besteht in der extremen Verschuldung des Weltsystems. Eine Hochzinsphase, wie sie der damalige Fed-Chef Paul Volcker ab 1979 einleitete, bietet heute keinen Ausweg mehr.

((Initial))

Derzeit leisten insbesondere Neokeynesianer einer Mythenbildung Vorschub, mit der die systemischen Krisenursachen zugunsten äußerer Phänomene verdrängt werden. Als Ursachen der zunehmenden Inflation kommen demnach ausschließlich die Folgen der Pandemie und insbesondere die des russischen Angriffskriegs in Betracht. Das erinnert an die auch heute noch populäre Interpretation der historischen Stagflationsperiode, die einzig auf den Ölpreisschock von 1973 zurückzuführen sei. Das Ende des fordistischen Booms und somit die strukturelle Krisenhaftigkeit des Kapitalismus werden ausgeblendet.

Die aktuelle Teuerungswelle ist aber keine bloß kriegsbedingte „Putin-Inflation“. Schon ein flüchtiger Blick auf die Entwicklung der Inflationsdynamik zeigt deutlich, dass diese bereits vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine in Reaktion auf die pandemiebedingte Geldflut der Notenbanken einsetzte. Um den ersten deflationären Schock nach Pandemieausbruch abzufangen, erreichten die globalen Konjunkturmaßnahmen ein Vielfaches dessen, was nach dem Platzen der Immobilienblasen 2007/08 zur Stabilisierung des Weltfinanzsystems aufgewendet wurde. In diesem Sinne fungieren die „äußeren“ Erschütterungen allenfalls als Krisenbeschleuniger. Die Geldflut, in Wechselwirkung mit dem Platzen der globalen Liquiditätsblase – der „Everything-Bubble“ – muss als primäre Ursache der nun einsetzenden Entwertung des Werts begriffen werden.

Die Kappung oder Störung der globalen Handels- und Produktionsketten während der Pandemie und des Ukraine-Krieges erklärt vor allem die jüngste Beschleunigung des Preisauftriebs. Doch auch beim Ukraine-Krieg ist ja die Wechselwirkung mit dem Krisenprozess offensichtlich, da Moskau in klassisch imperialistischer Weise den Angriff auf die Ukraine in Reaktion auf die zunehmenden, vom Westen instrumentalisierten Verwerfungen und Unruhen im postsowjetischen Raum startete. Hinzu kommt, dass die voll einsetzende Klimakrise die Inflation antreibt, weil sie zu Produktionsausfällen – etwa bei Missernten – und zu Mehrbedarf an Energie führt – Brasilien musste etwa mehr Erdgas importieren, da eine anhaltende Dürre die Energieerzeugung aus Wasserkraft einschränkte.

Die sozioökonomischen Folgen des jüngsten Krisenschubs werden aller Voraussicht nach nicht mehr von den Zentren auf die Peripherie abgewälzt werden können. Gerade in der bislang von der Krise weitgehend verschonten BRD, wo allein schon die Angst vor der Krise Naziparteien zweistellige Wahlergebnisse verschafft, könnten die kommenden politischen Verwerfungen dramatisch ausfallen.

Tomasz Konicz schrieb in konkret 7/22 über die drohende Nahrungskrise

1 Kommentar zu „The walking debt“

  1. Pingback: Silicon Valley Banck – o elo mais fraco – Thomasz Konicz – Revista Eletrônica

Kommentarfunktion geschlossen.

Nach oben scrollen