Ruhm und Ähre

konkret, 07/2022

Dass Teilen der Welt eine verheerende Hungersnot droht, lässt sich nicht allein auf die Folgen des Ukraine-Kriegs zurückführen. Von Tomasz Konicz 

Putin war’s! Dieser Ausruf, den die rotbraune deutsche Fangemeinde des Kremlherrschers gerne mit einem Augenzwinkern zur Verspottung jedweder Kritik an ihrer Führerersatzfigur verwendet, scheint im Fall der sich verschärfenden Hungerkrise im globalen Süden tatsächlich vollauf zuzutreffen. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine sind die Preise für Grundnahrungsmittel regelrecht explodiert. Der Nahrungsmittelindex der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), in dessen Berechnung die Preisentwicklung von Getreide, Milchprodukten, Fleisch, Speiseölen und Zucker Eingang findet, ist seit Kriegsbeginn deutlich angestiegen. 

Die Ukraine und Russland beliefern als wichtige Exporteure von Grundnahrungsmitteln wie Weizen, Mais oder Sonnenblumenöl überwiegend Staaten der Peripherie. Belarus und Russland produzieren zudem einen großen Teil der Düngemittel für die globale Agrarwirtschaft. Nach Angaben des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle beträgt der Anteil der Weizenproduktion der Ukraine am Weltmarkt 11,5 Prozent. 2021 wurden in dem Land, das über besonders fruchtbare Böden verfügt, rund 33 Millionen Tonnen Weizen geerntet, wovon 20 Millionen Tonnen für den Export bestimmt waren. In diesem Jahr wird die Ernte Schätzungen zufolge kriegsbedingt um 35 bis 42 Prozent niedriger ausfallen, die Exporte sind im Mai bereits auf ein Drittel der Vorjahresmenge gesunken. Auslöser der Nahrungsmittelkrise sind somit einerseits der Krieg in der Ukraine und die russische Blockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen und andererseits global drohende Ernteeinbußen aufgrund von Düngemittelengpässen. Russland und Belarus produzierten 2019 rund 37 Prozent des weltweit verwendeten Kalidüngers. 

Vor Ausbruch des Krieges gingen die russischen und ukrainischen Getreideexporte vor allem in jene Regionen der Periphere, die für Hungersnöte besonders anfällig sind. Zu den größten Importeuren von Weizen aus russischer und ukrainischer Produktion zählen unter anderem Ägypten, Bangladesch, Nigeria, Jemen, Sudan und Senegal. Von den 25 afrikanischen Staaten, die mehr als ein Drittel ihrer Weizenimporte aus Russland und der Ukraine beziehen, deckten 15 Länder sogar über die Hälfte ihres Importbedarfs aus Russland und der Ukraine. Bei Somalia, Ägypten, Benin, Sudan, der Demokratischen Republik Kongo, Senegal und Tansania waren es sogar mehr als zwei Drittel. Gerade Ostafrika, wo die schlimmste Dürre seit 40 Jahren bereits heute eine schwere, rund 23 Millionen Menschen bedrohende Hungersnot verursacht hat, der statistisch betrachtet alle 48 Sekunden ein Mensch zum Opfer fällt, ist ein Hauptabnehmer von Weizen aus dem Kriegsgebiet. Da die EU-Sanktionen russische Sonnenblumenöl- sowie Getreideexporte gar nicht tangieren und die wichtigsten Importländer keine Sanktionen gegen Russland verhängt haben, muss der Preisanstieg und die daraus resultierende Zunahme von Hunger und Mangelernährung auf den imperialistischen Angriffskrieg zurückgeführt werden, den Putin – provoziert durch den westlichen Expansionsdrang in der engsten russischen Einflusssphäre – in seinem Größenwahn entfachte. 

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Ein Blick auf die globale Entwicklung von Hunger und Mangelernährung zeigt jedoch auch, dass der Krieg als Krisenverstärker fungiert, der bereits vorherrschende Tendenzen beschleunigt. Die westliche Öffentlichkeit verwendet den russischen Überfall auf die Ukraine zum Teil tatsächlich als eine billige Ausrede, um von den tiefergehenden, systemischen Krisenursachen abzulenken. 

Laut den Zahlen der FAO steigt die Zahl der Menschen, die im Spätkapitalismus unter Hunger und Unterernährung zu leiden haben, seit dem Jahr 2014 aufgrund von sozialen und ökologischen Krisenschüben nahezu jedes Jahr an. Am deutlichsten fiel die Zunahme des Hungers im Pandemiejahr 2020 aus – 768 Millionen Menschen waren betroffen. Die Bekämpfung der Pandemie führte zu einem massiven Nachfrageeinbruch in den Zentren, was zu einer Überproduktionskrise samt der mit ihr korrespondierenden Elendsexplosion in der Peripherie führte. Laut einem Bericht der „FAZ“ ist beispielsweise der Absatz von Textilien in Europa und Nordamerika 2020 um rund 16 Milliarden Dollar eingebrochen, was sich in Einkommensminderungen von circa 21 Prozent in der südostasiatischen Textilindustrie niederschlug. Da die Löhne in der Branche in Ländern wie Bangladesch, Pakistan oder Burma, am Existenzminimum liegen, mussten Millionen Arbeiterinnen schlicht hungern – oder sich verschulden.

Umfragen zufolge sahen sich 75 Prozent der Beschäftigten dazu gezwungen, Kredite aufnehmen, um ihre Versorgung mit dem Lebensnotwendigen zu gewährleisten. Der marktvermittelte kapitalistische Verelendungsmechanismus, der während der Pandemie nicht nur in der Textilindustrie seine zerstörerische Wirkung entfaltete, transformiert die sinkende Nachfrage der Zentren des Weltsystems in leere Mägen in der Peripherie. Der Anstieg des Hungers betraf im Jahr 2020 also Millionen Lohnabhängige, gerade weil zu viel materieller Reichtum produziert wurde, der nicht mehr in Warenform verwertet werden konnte. Diejenigen Lohnabhängigen, die weiterhin Klamotten für Adidas, Puma und Co. nähen dürfen, haben gemäß der kapitalistischen Verwertungslogik noch „Glück“ gehabt. 

Im Kapitalismus hat nur das eine Existenzberechtigung, was direkt oder indirekt zum Verwertungsprozess des Kapitals beiträgt, also die uferlose Geldvermehrung mittels Lohnarbeit befördert. Natürliche Ressourcen und Menschenleben haben für das Kapital keinen Wert an sich, sondern sie fungieren nur als Mittel zum irren Selbstzweck uferloser Kapitalakkumulation. Waren – und dazu gehört auch die Ware Arbeitskraft – stellen einen bloßen Kostenfaktor dar, wenn sie nicht verwertet werden können. Da unter kapitalistischen Verhältnissen mit der massiven Zunahme des Hungers eine ebensolche Abnahme der Marktnachfrage nach Nahrungsmitteln einhergeht, war das Pandemiejahr 2020 folgerichtig nicht nur von einer gravierenden Zunahme des Hungers geprägt, sondern auch von massenhafter Lebensmittelvernichtung. Die US-Agrarindustrie ließ beispielsweise Millionen Tonnen Grundnahrungsmittel vernichten, während rund 38 Millionen US-Bürger unter „Nahrungsmittelunsicherheit“ litten und die Schlangen vor den Suppenküchen und Nahrungsmittelausgabestellen, die 2020 von 60 Millionen Menschen frequentiert wurden, immer länger wurden.

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Die Vernichtung von Lebensmitteln, die nicht mehr in Warenform gepresst werden können, findet auch in diesem Kriegs- und Krisenjahr statt, wenn etwa Bauern im Münsterland ihre Erdbeerfelder unterpflügen lassen, weil der Lebensmittelhandel die Preise unter die Produktionskosten drückt. Doch es zeichnen sich inzwischen auch durch die Klimakrise bedingte Verlaufsformen von Hungersnöten ab. Das verdeutlicht etwa ein Blick nach Indien. Im Frühjahr war das Land von einer historisch beispiellosen, wochenlangen Hitzewelle mit Rekordtemperaturen von mehr als 45 Grad Celsius betroffen, was zu erheblichen Ernteeinbußen führte. In wichtigen Anbauregionen wie dem Punjab werden die Ernteverluste ersten Schätzungen zufolge rund 25 Prozent betragen. Da Indien bereits einen großen Teil seiner Getreidereserven während der pandemiebedingten Pauperisierungsschübe verbrauchte, um im Rahmen eines Sozialprogramms Hungersnöte und Unruhen zu verhindern, entschloss sich Neu-Delhi angesichts der explodierenden Preise, die Notbremse zu ziehen und ein Exportverbot für Weizen zu verhängen. Indien wollte ursprünglich die durch den Krieg in der Ukraine ausgelösten Engpässe nutzen, um neue Märkte zu erschließen, doch angesichts der einbrechenden Ernteerträge, die das bis September laufende staatliche Ernährungsprogramm in Frage stellen, sah sich die Regierung genötigt, zu protektionistischen Maßnahmen zu greifen. 

Die Klimakrise verstärkt somit die ohnehin in der Endphase der neoliberalen Globalisierung – spätestens seit dem Amtsantritt Donald Trumps – vorherrschenden protektionistischen Tendenzen. Und die Einschläge, die in der Gestalt extremer Wetterereignisse auftreten, häufen sich: Die schwere Hitzewelle, die Spanien im Mai heimsuchte, gefährdete die Ernte bei etlichen Beerensorten. In den USA drohen aufgrund langanhaltender Dürren im Mittleren Westen Ertragsverluste von acht Prozent bei Winterweizen – trotz einer Ausweitung der Anbaufläche. In Marokko ist dürrebedingt mit Ernteverlusten von 70 Prozent zu rechnen, in Kanada und Frankreich drohen aufgrund ungewöhnlich warmer und trockener Witterungsverhältnisse im Frühjahr ebenfalls deutliche Einbußen. Und auch China könnte aufgrund starker Überflutungen Ertragsverluste verzeichnen. Insgesamt sollen laut Schätzungen des US-Agrarministeriums die Weizenerträge in der Saison 2022/23 um 0,6 Prozent, die globalen Reserven sogar um fünf Prozent zurückgehen. 

Die explodierenden Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel, die dazu beitragen dürften, dass die Zahl der 193 Millionen weltweit vom Hungertod bedrohten Menschen, die der Global Report on Food Crises für 2021 konstatierte, auch in diesem Jahr weiter ansteigen wird, antizipieren angesichts des Krieges und der Klimakrise folglich nur die künftige Marktnachfrage. Und nicht nur Indien reagiert auf diese mörderische Marktbewegung mit Protektionismus. Aufgrund der massiv steigenden Preise und drohender Versorgungslücken erließ etwa Indonesien im April kurzfristig ein Exportverbot für Palmöl, was die Versorgungslage insbesondere im globalen Süden zusätzlich verschärfte. Die Ausfuhrbeschränkungen für das umweltschädliche Öl, das in dem südasiatischen Inselstaat zu 60 Prozent aus Ölpalmen gewonnen wird, die in Monokulturen auf dem Boden abgeholzter Regenwälder angebaut werden, sind erst Ende Mai aufgehoben worden. 

Ähnlich wie die verfehlte globale Pandemiebekämpfung durch die ungleiche Distribution der Impfstoffe immer neue Mutanten und Resistenzen in der Peripherie entstehen lässt, ist das spätkapitalistische Weltsystem auch bei der an Dynamik gewinnenden Hungerkrise zugleich deren Ursache und Verstärker. Der Wachstumszwang der kapitalistischen Volkswirtschaften, selber nur Ausdruck des Verwertungsprozesses, lässt die globalen CO2-Emissionen allen ideologischen Beteuerungen grüner Politiker/innen zum Trotz munter weiter ansteigen, was die Nahrungsmittelversorgung der Menschheit immer stärker unter Druck setzen wird. Zugleich ist das spätkapitalistische Agrarsystem außerstande, auf die zunehmenden Verwerfungen, angemessen zu reagieren, da es allein dem Selbstzweck höchstmöglicher Profiterzielung folgt. 

Die im grünen Politsumpf gerne angestimmten Klagen, denen zufolge „wir“ doch endlich weniger Fleisch essen und weniger Biodiesel tanken sollten, blenden gerade diesen irrationalen Selbstzweck des Kapitals, das die Existenzgrundlagen der Menschheit zum bloßen Material des realabstrakten Verwertungsprozesses macht, souverän aus. Die von der Agrarmafia angesichts der sich entfaltenden Hungerkrise erhobenen Forderungen, doch die Umweltstandards zu senken und den Bioanbau aufzugeben, um die ökologisch desaströse Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion auf die Spitze zu treiben, illustrieren nur die grundlegende Reformunfähigkeit des spätkapitalistischen Agrarsektors, wie sie schon 2020 bei der durch Lobbyverbände bis zur Unkenntlichkeit aufgeweichten EU-Agrarreform zum Ausdruck kam (siehe konkret 12/20).

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Im Zuge der Hungerkrise treten die inneren und äußeren Schranken des Kapitals miteinander in Wechselwirkung – dies wird ganz konkret anhand des Preisauftriebs deutlich, der ja nicht nur durch Krieg und Klimakrise, sondern auch durch die Folgen der massiven Überschuldung des gesamten kapitalistischen Weltsystems befeuert wird. Die gigantische globale Schuldenlast – Folge eines fehlenden Akkumulationsregimes, das im neoliberalen Zeitalter durch kreditfinanziertes Wachstum simuliert wurde -, die auch viele von Hungersnöten bedrohte Länder im globalen Süden erdrückt und adäquate Krisenreaktionen erschwert, konnte in den letzten Jahren nur durch eine stetig zunehmende Gelddruckerei der Notenbanken aufrechterhalten werden. Diese „expansive Geldpolitik“ äußerte sich lange vor Kriegsausbruch in einer steigenden Inflation, die zur Lebensmittelteuerung beiträgt und die  die unausweichliche Entwertung der globalen Schuldenberge ankündigt. Und es waren gerade diese zunehmenden ökonomischen wie ökologischen Widersprüche, die den Westen und Russland in der Ukraine auf Kollisionskurs brachten.  

Der Charakter des neoimperialistischen Great Game um die Ukraine hat sich seit 2014 – als der Westen mittels eines durch Nazi-Milizen durchgeführten Regierungsumsturzes intervenierte, um die Bildung der von Putin damals propagierten Eurasischen Union zu verhindern – folglich gewandelt. Mit dem Kampf um die südlichen und südöstlichen Regionen der Ukraine, die der Kreml in sein Rohstoff-Imperium eingliedern will, findet nun auch ein archaisch anmutender Ressourcenkrieg statt. Die umkämpften Landstriche weisen die höchsten landwirtschaftlichen Erträge bei Getreidearten wie Weizen oder Roggen auf. Moskau, das an der Modernisierung der russischen Wirtschaft scheiterte, weitet seine Strategie zur Formierung eines „Energieimperiums“, das die weitgehende Kontrolle der „Wertschöpfungskette“ von Energieträgern anstrebt, um weitere „knappe“ Ressourcen aus: in diesem Fall Grundnahrungsmittel. 

Russland will nicht nur eine atomar bewaffnete Gastankstelle sein, es will auch zum Getreidespeicher der in die Klimakatastrophe taumelnden spätkapitalistischen Welt werden, um hierdurch einen weiteren geopolitischen Machthebel zu erhalten. Der Besuch von Vertretern der Afrikanischen Union Anfang Juni in Moskau, bei dem die Nahrungsmittelkrise besprochen wurde, illustriert die russische Strategie. Er sei „sehr zufrieden und sehr glücklich“ über den Austausch mit seinem russischen Amtskollegen, erklärte der senegalesische Präsident Macky Sall nach der dreistündigen Unterredung mit Wladimir Putin, da dieser sich dessen bewusst sei, dass „die Krise und die Sanktionen ernsthafte Probleme für schwache Volkswirtschaften wie die afrikanischen“ nach sich ziehen würden. Die „New York Times“ bezeichnete das Treffen als „so etwas wie einen diplomatischen Sieg“ Putins. Es darf allerdings bezweifelt werden, dass das spätkapitalistische Weltsystem in seiner gegenwärtigen Verfassung so etwas wie Sieger überhaupt noch kennt. 

Tomasz Konicz schrieb in konkret 6/22 über den Krieg der Türkei gegen die Kurden im Nordirak  

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