Konkret 11/2021
Löst die Pleite des Immobilienkonzerns Evergrande einen Kriseneinbruch der Weltwirtschaft aus, wie einst der Kollaps der Investmentbank Lehman Brothers? Oder hat der chinesische Staatskapitalismus alles unter Kontrolle? Von Tomasz Konicz
Bis zur Weltfinanzkrise von 2007/2008 fungierte die Exportindustrie als der Konjunkturtreiber Chinas. Durch die extremen chinesischen Handelsüberschüsse gegenüber den Defizitkonjunkturen der USA und Europas wurde nicht nur die Exportindustrialisierung und -modernisierung der sogenannten Volksrepublik vorangetrieben, damit ging auch ein Schuldenexport einher, wie ihn bis zum heutigen Tag die BRD als mehrfacher ‚Exportüberschussweltmeister‘ betreibt.
Mit dem Platzen der Immobilienblasen in den USA und Europa, denen global mit enormen Konjunkturmaßnahmen begegnet wurde, änderte sich das chinesische Akkumulationsmodell. Der staatliche Nachfrageschub, um die Folgen der Krise abzumildern, entsprach rund 4,7 Prozent der Weltwirtschaftsleistung des Jahres 2009, wobei die Konjunkturaufwendungen in der Volksrepublik besonders hoch ausfielen: Sie umfassten rund 14 Prozent des damaligen Bruttoinlandsprodukts (BIP) – in den USA waren es nur 7,1 Prozent. Die gigantischen Stützungsmaßnahmen, die die chinesische Regierung in Reaktion auf den Krisenschub von 2008 implementierte, bildeten die Initialzündung für eine Transformation der chinesischen Konjunkturdynamik: Der Export verlor an Gewicht, die kreditfinanzierte Bauwirtschaft, die Infrastruktur und der Immobiliensektor bildeten nun die zentralen Triebkräfte des Wirtschaftswachstums.
Womit wir beim Fall Evergrande wären. Der zweitgrößte Immobilienkonzern Chinas steht heute vor dem Bankrott, nachdem er es am 23. September versäumt hat, Zinsen in Höhe von 83,5 Millionen US-Dollar für Offshore-Anleihen zu begleichen. Dass der schwankende Immobiliengigant ohne Staatshilfen das laufende Jahr übersteht, ist nahezu ausgeschlossen, da allein bis Jahresende rund 600 Millionen Dollar an Verbindlichkeiten fällig werden – im ersten Quartal 2022 sind es sogar 3,5 Milliarden Dollar. Die Schulden des Konzerns belaufen sich insgesamt auf mehr als 300 Milliarden Dollar – Evergrande ist gewissermaßen ein Griechenland in Konzernformat. Ende September deutete die chinesische Notenbank Stützungsmaßnahmen an, um die Interessen privater Immobilieninvestoren zu schützen, während die Währungshüter zugleich die Kreditvergaberichtlinien weiter verschärften, sowie die Stabilisierung des Immobilienmarktes und eine Eindämmung der Spekulationsdynamik von der Finanzbranche forderten.
Anfang Oktober wurde der Handel mit Evergrande-Aktien ausgesetzt. Zuvor hatte über Wochen Unsicherheit an den Weltbörsen, die mitunter in heftige Turbulenzen gerieten, geherrscht. Die Angst vor einer globalen ‚Ansteckung‘, vor einem zweiten ‚Lehman-Schock‘ machte die Runde.
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Der Konzern Evergrande, 1996 gegründet, häufte seinen Schuldenberg hauptsächlich durch – mitunter gigantische – Immobilienprojekte in China an. Allein der Bau eines Fußballstadions in der südchinesischen Provinz Guangzhou sollte rund 1,8 Milliarden Dollar verschlingen. Von den 800 Bauprojekten des Immobiliengiganten sollen derzeit aufgrund des drohenden Bankrotts rund 500 brachliegen. Evergrande kündigte kürzlich an, seine Gläubiger teils in Immobilien auszahlen zu wollen. Bis zu 1,6 Millionen Immobilienkäufer warten derzeit darauf, dass der Konzern die von ihnen bereits bezahlten Wohnungen fertigstellt. Dieses Millionenheer an Kleininvestoren sollten die Erklärungen der chinesischen Notenbank beruhigen. Anfang Oktober sickerte überdies durch, dass Peking chinesische Staatsunternehmen ermuntere, die Immobilien und Bauprojekte Evergrandes aufzukaufen. Offensichtlich plant die Regierung, die Schockwellen, die eine Abwicklung des Giganten aussenden könnte, zu minimieren.
Die Masche des Konzerns – wie auch die anderer Immobilienunternehmen – wird von Kritikern als klassisches Pyramidenspiel charakterisiert. Die Bauprojekte werden von den Immobilienkäufern im voraus finanziert, wobei dieses Geschäftsmodell nur solange trägt, wie die Expansionsbewegung andauert, also immer neue Kunden gewonnen werden und sich die Immobilienpreise im Höhenflug befinden. Die berüchtigten chinesischen Geisterstädte aus eilig erbauten, oft schon im Verfall begriffenen Hochhaussiedlungen, die zumeist an den Verwaltungsgrenzen chinesischer Ballungsräume errichtet wurden, um lokale Beschränkungen beim Immobilienbesitz zu umgehen, sind gerade Produkt dieser Spekulationsdynamik, die in ihren Ausmaßen alles in den Schatten stellt, was sich in den USA oder in Teilen Westeuropas vor dem Immobiliencrash 2007/2008 abspielte. Es gibt in China zu Spekulationszwecken errichtete Siedlungen aus einstürzenden Neubauten, deren als Kleininvestoren agierende Besitzer aus der Mittelklasse nicht im Traum daran gedacht hatten, dort auch einzuziehen.
Der Immobilienbesitz ist die mit großem Abstand wichtigste Anlageform privaten Reichtums in der – nun ja – Volksrepublik. Rund drei Viertel des privaten Wohlstandes der aufstrebenden chinesischen Mittelschicht sollen in den vergangenen zwei Dekaden ins liebe ‚Betongold‘ geflossen sein, das ewig im Wert zu steigen schien. Chinesen, die es sich leisten können, haben in den Geistersiedlungen am Rande der Großstädte leerstehende Wohnungen, die irgendwann mit Gewinn verkauft werden sollen. Immobilien haben sich vor allem aufgrund mangelnder Alternativen zur wichtigsten Wertanlage entwickelt: Die Inflation liegt höher als die Bankzinsen, die Börsen gelten aufgrund extremer Kursschwankungen als zu unsicher und Kapitalverkehrskontrollen verhindern Investitionen im Ausland. Evergrande spielte eine zentrale Rolle als Triebmotor dieser Bonanza, indem es der Mittelsicht scheinbar sichere Investitionsmöglichkeiten bot – doch nun scheint das Geschäftsmodell an seine Grenzen zu stoßen.
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Eine genaue Bestimmung des Umfangs der chinesischen Immobilienspekulation gestaltet sich als schwierig, da die Angaben oftmals unzuverlässig sind, die Zahlen Pekings gar als ‚politisch motiviert‘ angesehen werden. In einer Studie, die sich mit der Spekulationsdynamik am Immobilienmarkt befasst, gelangt der US-Ökonom Kenneth Rogoff zur Einschätzung, dass Chinas Bau- und Immobiliensektor durch direkte und indirekte Effekte rund 29 Prozent des chinesischen BIP generiere – die ‚Financial Times‘ sprach von 25 Prozent. Damit braucht die staatskapitalistische Volksrepublik den Vergleich mit dem Westen nicht zu scheuen. In Spanien machte der Immobiliensektor 2006 rund 28 Prozent des BIP aus, in Irland waren es circa 22 Prozent – wenige Jahre später platzte die Blase.
Noch dramatischer gestaltet sich die Lage, wenn das Preisniveau auf den wichtigsten Immobilienmärkten der Volksrepublik in Relation zum Lohnniveau gesetzt wird. In Peking, Shanghai und Shenzhen sind mehr als 40 durchschnittliche Jahreseinkommen nötig, um eine Immobilie zu erwerben, in London, einer der teuersten Städte des Westens, waren es hingegen 22, in New York sogar nur zwölf. Rogoff spricht von einer ‚atemberaubenden‘ und für große Volkswirtschaften ‚beispiellosen‘ Dimension, in die Chinas finanzmarktgetriebener Staatskapitalismus seine Immobilienspekulation trieb. Dies wird auch an der Relation zwischen Wohnfläche und Bevölkerungszahl deutlich, die laut Rogoff in der Volksrepublik längst das Niveau von Frankreich und Großbritannien erreicht hat – und sogar über dem Spaniens liegt. Ginge es bei dem Baufieber tatsächlich darum, Menschen mit Wohnraum zu versorgen, wäre Chinas Immobilienmarkt längst gesättigt. Laut ‚Financial Times‘ könnten 90 Millionen Menschen in den leerstehenden Spekulationsobjekten der Volksrepublik eine Bleibe finden.
Dabei bildet Evergrande nur die Spitze des Eisbergs in einem autoritären Staatskapitalismus, der eine grundlegende Krisentendenz mit seiner westlichen Konkurrenz teilt: Er läuft auf Pump. 2020 beliefen sich alle in China akkumulierten Verbindlichkeiten (Staat, Privatsektor, Finanzsphäre) auf rund 317 Prozent des BIP, was nur noch knapp hinter dem globalen Durchschnittswert von 356 Prozent lag. Trotz der Deklarationen der Führung in Peking und verstärkter Bemühungen um ein Eindämmen der Kreditvergabe sind die Schuldenberge Chinas seit 2008 schneller gewachsen als das Bruttoinlandsprodukt der ‚Werkstatt der Welt‘. US-Ratingagenturen werteten Ende September die Bonität etlicher Immobilienkonzerne Chinas – unter anderem Fantasia Holdings, China South City Holdings – ab, während das Nachrichtenportal Bloomberg eine Liste mit zehn Immobilienunternehmen veröffentlichte, die sich bereits in Schieflage befinden sollen. Es droht ein Dominoeffekt auf dem absurd überschuldeten Immobiliensektor: Anfang Oktober konnte auch der Immobilienkonzern Fantasia Holdings eine Anleihe in Höhe von 200 Millionen Dollar nicht zurückzahlen.
Mitunter müssen Staatskonzerne durch milliardenschwere Bailouts vor dem Kollaps bewahrt werden. Kurz vor dem aktuellen Evergrande-Fiasko musste Peking etwa den angeschlagenen Finanzkonzern Huarong durch angeordnete Übernahmen vor der Pleite bewahren, da das auf Schuldenverwertung spezialisierte Unternehmen seinen Zahlungsverpflichtungen in Höhe von 16 Milliarden US-Dollar nicht mehr nachkommen konnte (Huarongs Schulden sollen sich auf mehr als 100 Milliarden Dollar belaufen). In Not geratene Staatskonzerne werden durch politisch angeordnete Investitionen von anderen Staatskonzernen vorläufig stabilisiert – das Krisenpotenzial wird damit verallgemeinert. Ähnliche Schuldenkrisen bei privaten und staatlichen Konzernen spielten sich auch 2018 und 2020 ab – etwa bei der Wanda Group. Allein die Verbindlichkeiten von Huarong und Evergrande sollen sich auf 540 Milliarden Dollar summieren.
Gigantische Schulden, die laut Goldman Sachs bei 8,2 Billionen US-Dollar liegen, sollen auch Chinas Kommunen angehäuft haben. Stimmt diese Zahl, würde das rund 52 Prozent des BIP der Volksrepublik entsprechen. Die überschuldeten Kommunen haben im Verlauf des Immobilienbooms übrigens eine wichtige Finanzierungsquelle erschlossen: Sie verkaufen Land an Immobilienkonzerne, die darauf ihre Spekulationsobjekte errichten. Der offiziell nicht erfasste Schuldenberg, der von den Schattenbanken Chinas akkumuliert worden sein soll, beläuft sich Schätzungen zufolge auf 13 Billionen Dollar.
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Trotz dieser Verschuldungsdynamik ist in China ein Krisenverlauf wie 2008 infolge der Lehman-Pleite kaum vorstellbar: Der autoritäre chinesische Staatskapitalismus verfügt über eine Vielzahl von Hebeln, um gezielt zu intervenieren und die Schockwellen einer etwaigen Pleite von Evergrande und Co. zu minimieren. Peking kann Banken quasi per Dekret dazu veranlassen, angeschlagene Konzerne mit frischer Liquidität zu versorgen. Die Aufkäufe von Evergrandes Unternehmenssparten und Investitionsruinen durch staatsnahe oder staatliche Konzerne, die Anfang Oktober eingeleitet wurden, sind Ausdruck dieser enormen staatskapitalistischen Interventionsmöglichkeiten, die Washington auf dem Höhepunkt der Finanzkrise schlicht nicht zur Verfügung standen. Außerdem ist der Anteil der Auslandsschulden von Evergrande mit 20 Milliarden Dollar relativ gering. Und schließlich verfügt der Konzern – im Gegensatz zu Lehman Brothers – tatsächlich über Immobilien, die veräußert werden können.
Und doch unterliegt der chinesische Staatskapitalismus denselben sich zuspitzenden Widersprüchen des spätkapitalistischen Krisenprozesses, wie sie auch den Rest der kapitalistischen One World betreffen. Die umfassenden staatlichen Interventionsmöglichkeiten Pekings haben nur dazu geführt, dass die aus der Krise resultierende Spekulationsdynamik im kapitalistischen China noch gravierendere Ausmaße annehmen konnte als im Westen. Der Staat konnte bei Schuldenkrisen ‚erfolgreich‘ intervenieren, was den unmittelbaren Crash zwar abwenden konnte, jedoch die Spekulations- und Verschuldungsdynamik prolongierte. Auch die von Milliardären geführte ‚Kommunistische‘ Partei Chinas befindet sich in der charakteristischen Krisenfalle aller binnenkapitalistischen Politik seit den achtziger Jahren: Jeder Versuch, die Spekulationsdynamik und die Schuldenakkumulation zu beenden, hat schwere Konjunktureinbrüche und Wirtschaftskrisen zur Folge.
Am Beispiel Evergrande lässt sich diese Dynamik anschaulich beobachten: Die Regierung ist sich der Tatsache, dass der chinesische Immobiliensektor überschuldet ist und sich eine Spekulationsblase gebildet hat, durchaus bewusst. Deswegen wurden im Herbst 2020 umfassende Gegenmaßnahmen ergriffen. Die sogenannten ‚drei roten Linien‘ sehen Beschränkungen unter anderem bei der Schuldenaufnahme in Relation zu Vermögenswerten und bei der kurzfristigen Kreditaufnahme vor. Es sind nun aber gerade diese Versuche, der Spekulation zu begegnen, die den Fall von Evergrande noch beschleunigt haben. Vielleicht kann Peking auch diesmal – wie schon 2015 während der großen chinesischen Aktienkrise – einen manifesten Krisenausbruch aufschieben, doch dies wird nur um den Preis einer erneuten Ausweitung der Spekulation und eines weiteren Anwachsens des korrespondierenden Schuldenbergs möglich sein. Aber einen Einbruch der Konjunktur und des Immobilienmarktes – in den Chinas Mittelklasse ihre Ersparnisse investiert hat – kann sich das Land buchstäblich nicht leisten, denn das dürfte schwere politische Verwerfungen nach sich ziehen.
Tomasz Konicz schrieb in konkret 10/21 über einen aktuellen UN-Bericht zu den Folgen des Klimawandels