15.08.2021
Armeniens verzweifelte Lage illustriert die geopolitischen Realitäten nach dem Ende der US-Hegemonie.
Armenien scheint nach dem im November 2020 verlorenen Krieg nicht zur Ruhe kommen zu können. In den vergangenen Monaten stießen aserbaidschanische Truppen immer wieder auf armenisches Territorium vor und besetzten mehrere Grenzgebiete, wie etwa den Sev-See, einen im Südosten Armeniens gelegenen Grenzsee,1 der sich zu gut zwei Dritteln auf armenischen Territorium befindet. Seit diesem ersten aserbaidschanischen Vorstoß im vergangenen Mai,2 an dem mehrere Hundert Soldaten beteiligt waren, finden nahezu täglich3 Scharmützel4 in der Grenzregion5 der verfeindeten Kaukasus-Republiken statt.
Angesichts der schweren militärischen Niederlage Armeniens im vergangenen Krieg, als Aserbaidschan mit offener Unterstützung der Türkei einen großen Teil der von Armeniern bewohnten Region Bergkarabach erobern konnte, scheinen die Anschuldigungen aus Jerewan, wonach Baku diese militärischen Provokationen gezielt schüre, durchaus stichhaltig. Das geschwächte Armenien ist nicht in der militärischen Verfassung, einen weiteren Waffengang gegen die militärische Allianz zwischen Baku und Ankara zu überstehen. Scheinobjektive Berichte in deutschen Medien, die von wechselseitigen Anschuldigungen bei Grenzkämpfen schrieben,6 blenden diese tatsächliche militärische Situation vor Ort aus – und sind eher Ausdruck der mit den Dollarmillionen Bakus zusätzlich geschmierten7 geopolitischen Ausrichtung Berlins.
Inzwischen scheint die Lage an der armenischen Grenze dermaßen verzweifelt, dass Jerewan öffentlich um weitere russische Truppen nicht nur in Bergkarabach, sondern auch an der Staatsgrenze zu Aserbaidschan bittet.8 In Baku scheint indes nach der Eroberung und ethnischen Säuberung eines großen Teils von Bergkarabach der Appetit auf weitere Eroberungen zu wachsen. Der aserbaidschanische Diktator Alijew bezeichnet inzwischen auch die südarmenische Region Sjunik9 als das Land seiner ‚Vorfahren‘, in dass die Aserbaidschaner zurückkehren werden, da niemand sie stoppen könne.10
Jerewans südöstlichste Provinz bildet nach dem gewonnenen Angriffskrieg gegen das isolierte Armenien schlicht das nächste logische Ziel der Achse Ankara-Baku. Sjunik verschafft Armenien eine Grenze mit dem Iran, während die Region zugleich eine durchgehende Landverbindung der ‚turkmenischen‘ Allianz zwischen Erdogan und Alijew verhindert, um so Material – und vor allem fossile Energieträger – vom Kaspischen Meer bis zur Türkei transportieren zu können (bislang ist man dabei auf Georgien angewiesen). Schon bei dem Waffenstillstand im vergangenen November konnten Ankara und Baku Regelungen zur Errichtung einer Transitstrecke in Sjunik durchsetzen, die aber vom russischen Geheimdienst FSB kontrolliert werden soll.11 Aus reinem geopolitischen Kalkül gerät somit Südarmenien in den Fokus Bakus wie Ankaras. Wobei in der Türkei dieses imperiale Streben sich mit dem Krisenbedingt aufschäumenden Armeierhass des türkischen Islamofaschismus vermengt, der faktisch den Genozid von 1915 an den Armeniern vollenden will.
Bei diesem geopolitischen Vorhaben kann Ankara auf die taktische Unterstützung des Westens zählen, wie das Atlantic Council in einem Strategiepapier ausführte, wo die großtürkischen Ambitionen Erdogans als ein Mittel zur Unterminierung des russischen Einflusses im Südkaukasus angesehen werden.12 Wie sehr die USA auf das Regime in Baku setzen, macht etwa die Aufhebung des Waffenembargos gegen Aserbaidschan deutlich, das schon im vergangenen Mai von der Biden-Administration beschlossen wurde (nur wenige Tage nach der offiziellen Anerkennung des Genozids an den Armeniern durch Washington).13 Die regionale Hegemonialpolitik des türkischen Imperialismus, die Expansionsagenda Alijews im Südkaukasus – sie bilden für die Geostrategen des Westens, die in ihren Publikationen Armenien faktisch zur Kapitulation raten, den Rammbock, um Russland aus dieser strategisch wichtigen Region zu verdrängen.
Für Russland war es folglich essenziell, im Ausgang des Krieges eine möglich starke militärische Präsenz in dieser Region aufbauen zu können, den Karabach-Konflikt vorläufig ‚einzufrieren‘ und somit eben dieses Kalkül vorläufig zu durchkreuzen. Falls eine Transitstrecke über südarmenisches Territorium tatsächlich Aserbaidschan mit seiner Exklave im Westen und der Türkei verbinden sollte, dann nur unter russischer Kontrolle. Der Kriegsausgang im vergangenen November kann somit auch als ein taktischer Sieg des Kremls bei einer strategischen Schwächung des russischen Einflusses in der Region angesehen werden.
Bei seinem Abwehrkampf gegenüber dem zunehmenden militärischen und geopolitischen Druck findet sich Jerewan somit weitgehend alleingelassen. Die von Russland als eine eurasische Antwort auf die Nato konzipierte Militärallianz CSTO,14 deren Teil Armenien ist, hat sich im Kriegsverlauf als ein schlechter Witz herausgestellt, da die vertraglich zugesicherten Beistandsverpflichtungen selbst bei den evidenten Verletzungen armenischen Territoriums nicht eingehalten worden sind. Die einstmals enge geopolitische Allianz zwischen Armenien und Moskau ist aber schon vor Kriegsausbruch zunehmenden Belastungen ausgesetzt gewesen, da der gegenwärtige armenische Premier Nikol Paschinjan an der Spitze einer bürgerlich-demokratischen ’samtenen Revolution‘ stand, die 2018 die alte korrupte und prorussische Garde von den Schalthebeln der Macht stürzte und diese juristisch belangte – was im Kreml für starke Irritationen sorgte.15 Schon 2019 ließ Gasprom folglich die Erdgaspreise in dem verarmten Land kräftig anheben, während Paschinjan versuchte, die Anbindung an Russland vorsichtig zu lockern und außenpolitisch sich dem Westen, etwa der EU anzunähern.16
Die Passivität des Kremls während des Karabachkrieges – als Putin die von Armeniern bewohnte Region faktisch zum Abschuss freigab, indem er erklärte, dass die russischen Sicherheitsgarantien hier nicht gelten17 – fungierte somit auch als ein abschreckendes Exempel, um etwaige Nachahmer abzuschrecken und die militärische Präsenz in der Region ausbauen zu können. Zugleich musste Moskau einen geopolitischen Drahtseilakt vollführen, da die armenischen Annäherungsversuche an den Westen vor allem eine Folge der engen Kooperation zwischen Moskau und Baku waren. Das Alijew-Regime hat es sehr gut verstanden, durch umfassende Waffenkäufe in Russland und eine russlandfreundliche Symbol- und Geschichtspolitik den Kreml – dem ein Diktator in Baku lieber ist als eine ’samtene Revolution‘ in Jerewan – zum Stillhalten im Krieg zu bewegen. Moskau wollte nicht nur Jerewan bestrafen, sondern auch die guten Beziehungen zu Baku trotz dessen Angriffskriegs gegen einen formellen Bündnispartner aufrechterhalten.
Dasselbe gilt für Baku. Aserbaidschan vollführte in den Jahren vor dem jüngsten Bergkarabach-Krieg eine geopolitische Schaukelpolitik, bei der das Land von dem Westen, der Türkei und Russland maximale Zugeständnisse zu erlangen versuchte – wobei der Ölreichtum des Landes den Schmierstoff dieses geopolitischen Kurses bildet. Sowohl der Kreml, wie auch Ankara sind weiterhin bemüht, die ölreiche Diktatur in ihre jeweilige regionale Strategie weitestmöglich zu integrieren.18 Man tanzte in Baku sozusagen auf allen Hochzeiten, indem ein Militäretat, das größer als der gesamte Haushalt Armeniens war, dazu genutzt wurde, russische, türkische, israelische und westliche Waffen zu kaufen, indem freundschaftliche Beziehungen zu Moskau gepflegt, und strategische Bündnisse mit Erdogan geschmiedet wurden. Dabei scheint es andrerseits Ankara darauf abzuzielen, eine dauerhafte militärische Präsenz im Kaukasus aufzubauen.19
Das Öl ist somit Aserbaidschans schärfste Waffe. Nicht nur bei der Akkumulation eines enormen Waffenarsenals, sondern auch bei der Formung von Bündnissen und Allianzen, die Armenien immer weiter isolieren, oder bei der Beeinflussung der öffentlichen Meinung und vieler Funktionsträger in den USA, in der EU oder in Berlin.20 Dabei kopiert Alijew eigentlich nur den geopolitischen Kurs Erdogans, der ebenfalls bei der Realisierung seiner imperialen Ambitionen zwischen Russland und dem Westen laviert, ohne sich jemals endgültig festzulegen, um von beiden Seiten maximale Zugeständnisse erringen zu können. Baku war deswegen so erfolgreich bei der Aushebelung der Status quo im Südkaukasus, weil dessen geopolitischer Hebel weitaus länger war als derjenige des verarmten Armeniens, das buchstäblich einem Energiekorridor im Weg liegt und das seine Infrastruktur schon vor Dekaden an die russische Staatsoligarchie verscherbeln musste.
Während Baku seinen Ölreichtum als einen geopolitischen Hebel nutzte, ist es im Fall der Türkei die strategische Lage am Bosporus und das ökonomisch-militärische Gewicht der zweitgrößten Nato-Armee, die der Westen um nahezu jeden Preis in seinem Bündnissystem halten will – während Russland zu weitgehenden Zugeständnissen bereit ist, um eben diese Bindung zu lockern. Erdogan konnte bei seinem geopolitischen Vabanque Spiel weite gebiete Nordsyriens besetzen und ethnisch von missliebigen Kurden säubern lassen. Die Türkei erobert gerade Gebiete im Nordirak, wo – nach syrischem Beispiel – ebenfalls arabische Islamisten angesiedelt werden sollen, um eine imperiale Pufferzone zu schaffen. Neben dem Angriffskrieg gegen Armenien konnte die Türkei im Verlauf einer Intervention in Libyen ihren Einfluss dort ausbauen und so umfassende Gebietsansprüche im östlichen Mittelmeer erheben.
Was hier letztendlich aufscheint, ist die sich abschließende geopolitische Tendenz zur Ausbildung eines Krisenkapitalismus ohne Hegemon. Dies komplexe geopolitische Macht- und Beziehungsgeflecht, bei dem Staaten in beständig wechselnden Konstellationen – je nach Interessensgebiet – konkurrieren oder kooperieren, ist faktisch die realpolitische Manifestation einer multipolaren Weltordnung nach dem Ende der US-Hegemonie. Dies ist die Realität eines Spätkapitalismus ohne Hegemon, wo keine einzelne der maroden kapitalistischen Großmächte mehr in der Lage ist, als imperialer ‚Weltpolizist‘ zu agieren. Dass es die USA offensichtlich nicht mehr sind, macht das Desaster in Afghanistan deutlich.
Es kommt somit zu einer Vervielfältigung geopolitischer Spannungen, zu einer zunehmenden Kriegsgefahr, zu einer Zunahme militärischer Auseinandersetzungen und entsprechender Grenzrevisionen. Die hoch verschuldeten USA haben diese Stellung schon im Gefolge der desaströsen Invasion des Irak eingebüßt, inzwischen sind sie eine Großmacht unter vielen, die mühsam Allianzen zu schmieden versucht, um den Aufstieg Chinas und den Abstieg des US-Dollars zumindest noch zu verlangsamen. In diesem multipolaren Beziehungsgeflecht nach der maximalen Realisierung der bornierten nationalen Interessen strebend – die krisenbedingt zunehmend nur auf Kosten anderer Länder realisiert werden können -. nutzen die Staaten ihre jeweiligen Machthebel, um unter mehr oder minder ausgeprägten Wechsel der geopolitischen Konstellationen entsprechend zu agieren. Die machtpolitisch klar strukturierte Frontstellung des kalten Krieges gehört in der Agonie des kapitalistischen Weltsystems ebenso der Vergangenheit an, wie die rund zwei Dekaden der klaren US-Hegemonie. Der Hegemon ist Geschichte, doch der Kapitalismus verwest weiter.
Nirgends wird dies evidenter als im südlichen Kaukasus, wo nicht nur Russland, die Türkei, die USA, China und etliche EU-Staaten um Einfluss ringen, sondern auch regionale Mächte ihr geopolitisches Kalkül in mitunter absurd anmutenden Konstellationen zu realisieren versuchen. Israel beispielsweise findet sich plötzlich an der Seite Ankaras als ein wichtiger Waffenlieferant und Bündnispartner Aserbaidschans, da man in Jerusalem darauf hofft, an der nördlichen Flanke des Irans mehr Druck ausüben zu können. Im Iran lebt eine signifikante aserbaidschanische Minderheit – das fundamentalistische Mullahregime im Iran pflegt hingegen gute Beziehungen zum christlichen Armenien, um eben diesem potenziellen aserbaidschanischen Unruheherden entgegenzuwirken.
All diese Staatsmonster streben somit einfach nur danach, so zu werden, wie es die USA einstmals waren. Dies ist angesichts der eskalierenden sozioökologischen Krise des Weltsystems nicht nur illusorisch, sondern brandgefährlich, da die zunehmenden regionalen Kämpfe, bei denen oft genug – etwa im Fall der Türkei – innere Spannungen durch äußere Expansion überbrückt werden sollen, sehr schnell in Großkriege ausarten können. Keine Großmacht im krisengebeutelten spätkapitalistischen Weltsystem, in dem zunehmende ökologische und ökonomische Verwerfungen immer neue geopolitische Instabilität generieren, verfügt mehr über die Ressourcen, um eine globale Hegemonie durchzusetzen (dies gilt auch für China, das gar nicht mehr den Anspruch erhebt, als imperialer ‚Weltpolizist‘ zu agieren und eher an der Festigung der regionalen Dominanz arbeitet) – und gerade dies lässt die Großkriegsgefahr in der manifesten Systemkrise zunehmen.
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1https://de.wikipedia.org/wiki/Sewansee
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5https://twitter.com/301_AD/status/1425856912986365961
6https://www.rnd.de/politik/armenien-und-aserbaidschan-werfen-sich-beschuss-in-grenzregion-vor-PYBKSVOG2DZI6EOJGS3HCXQTEI.html
7https://de.wikipedia.org/wiki/Aserbaidschan-Aff%C3%A4re
8https://www.usnews.com/news/world/articles/2021-07-29/azerbaijan-armenia-accuse-each-other-of-ceasefire-violations
9https://de.wikipedia.org/wiki/Sjunik
10https://eurasianet.org/whats-the-future-of-azerbaijans-ancestral-lands-in-armenia
11https://www.konicz.info/?p=4124
12https://www.atlanticcouncil.org/blogs/ukrainealert/infrastructure-cooperation-could-hold-the-key-to-armenias-future-security/
13https://thehill.com/policy/international/551577-biden-waiving-restriction-blocking-aid-to-azerbaijan-over-armenia
14https://en.wikipedia.org/wiki/Collective_Security_Treaty_Organization
15https://www.azatutyun.am/a/29401668.html
16https://www.coe.int/en/web/portal/-/nikol-pashinyan-armenia-is-today-unequivocally-a-democratic-country-
17https://www.themoscowtimes.com/2020/10/07/russias-security-guarantees-for-armenia-dont-extend-to-karabakh-putin-says-a71687
18https://jamestown.org/program/russia-turkey-compete-to-entice-azerbaijan-into-their-geopolitical-plays/
19https://www.rferl.org/a/lavrov-turkish-military-base-azerbaijan/31314674.html
20https://de.wikipedia.org/wiki/Aserbaidschan-Aff%C3%A4re