Der ewige Jude hat Konjunktur

Neues Deutschland, 12.08.2017
Reflexionen zur Wechselwirkung von Antisemitismus und Krise anhand aktueller Vorkommnisse

Es hat was von einer massenhaft auftretenden, fiebrigen Aufwallung, die über das Land fegt. Etwas, das im Unterbewussten schlummerte, tritt ans Tageslicht. Latent vorhandene Ressentiments werden manifest, drängen zur Entäußerung, zur irren Tat. Kurz nach der Wahl Donald Trumps wurden Dutzende antisemitische Vorfälle in den USA gemeldet. Allein in New York seien drei jüdische Friedhöfe binnen zweier Wochen von Vandalen heimgesucht worden, gab Reuters Anfang März bekannt. Ähnliche Vorfälle wurden unter anderem aus Philadelphia und St. Louis gemeldet. Bezeichnend die Reaktion Trumps auf diese wochenlange antisemitische Welle: Er machte seine politischen Gegner hierfür verantwortlich, die ihn dadurch »schlecht aussehen lassen« wollten.

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Größere öffentliche Aufmerksamkeit hat schon die antisemitische Plakatkampagne der ungarischen Regierung hervorgerufen, die sich auf den jüdischen Milliardär George Soros eingeschossen hat. Ministerpräsident Viktor Orban sieht Soros als Teil einer global agierenden antiungarischen Verschwörung, die zudem die Flüchtlingskrise bewusst herbeigeführt habe, um Europa zu zerstören. Inzwischen ist dies ein weit verbreitetes antisemitisches Gerücht. Dass die Juden hinter der aktuellen Flüchtlingskrise stecken, glauben auch die polnischen Nazis, die anlässlich des Nationalfeiertages 2015 auf dem Marktplatz in Wroclaw eine Judenpuppe verbrannten, um gegen die drohende »Islamisierung Polens« zu »protestieren«. In der islamisierten Türkei Erdogans zog hingegen der Mob vergangenen Juli, anlässlich der Spannungen auf dem Tempelberg, wie selbstverständlich vor eine jüdische Synagoge – und nicht etwa die israelische Botschaft -, die dann unter islamistischen Parolen angegriffen wurde.

Und auch in der neusten deutschen Rechten bricht der Antisemitismus immer wieder, geradezu eruptiv, hervor. Berüchtigt etwa die wütenden antisemitischen Ergüsse des thüringischen AfD-Landeschefs Björn Höcke vom Januar 2017, der die bloße Erinnerung an den Holocaust aus dem öffentlichen Leben verbannt sehen will. Höcke entpuppte sich als einer jener deutschen Antisemiten, die »den Juden Auschwitz niemals verzeihen« würden, wie es Adorno einstmals formulierte. Ähnlich sieht es bei einer regelrechten Flut von »Einzelfällen« brauner Hinterbänkler der AfD aus, die in der Regel gerade nicht mit einem Parteiausschluss rechnen müssen. Die 2016 entfachte Hetzkampagne des rechten Internetmobs gegen die jüdische Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung, Anetta Kahane, trug bereits im Kleinen die Merkmale einer »modernen«, impliziten antisemitischen Mobilisierung, wie sie auch Orbans Plakataktion vom Juli 2017 aufweist.

Doch wieso hat der Antisemitismus wieder Konjunktur? Die neuste europäische Rechte gebärdete sich anfangs dezidiert philosemitisch – dies gilt für einen Viktor Orban wie für eine Frauke Petry; oder auch den berüchtigten Thilo Sarrazin, die irre Avantgarde des deutschen Rechtspopulismus. Der Zentralrat der Juden in Deutschland warnte Ende Juli ausdrücklich vor der AfD. Er habe »das Gefühl, dass die AfD keine Hemmungen hätte, auch gegen jüdische Menschen zu hetzen, wenn es opportun wäre«, erklärte dessen Präsident Josef Schuster. Es scheint, als ob die populistische Rechte ihre ans Tageslicht drängenden antisemitischen Ressentiments kaum noch im Zaum halten könne – und als ob nur taktische Erwägungen den vollen antisemitischen Durchbruch noch verhinderten.

Auf den ersten Blick scheint das zunehmende antisemitische Geraune, scheint die Wiederkehr des Wahnbildes des »ewigen Juden« von der üblichen Sündenbocksuche in Krisenzeiten angetrieben zu sein. Unverstandenes wird auf den Juden als dessen Ursache projiziert – dies schon seit dem Mittelalter. Diese antisemitische Kontinuitätslinie reicht von der Legende über die jüdische Brunnenvergiftung, die im Gefolge der Verehrungen des Schwarzen Todes im 14. Jahrhundert um sich griff, bis zu den nationalsozialistischen Wahnbildern der jüdischen Weltverschwörung nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929.

Der einstmals klerikal grundierte Antisemitismus wandelt sich im Verlauf der Durchsetzung des Kapitalismus und des damit einhergehenden Nationalismus in den rassistischen, eliminatorischen Antisemitismus der Nazis. Die Juden seien »die Gruppe, die praktisch wie theoretisch den Vernichtungswillen auf sich zieht, den die falsche gesellschaftliche Ordnung aus sich heraus produziert«, bemerkte die während des Zweiten Weltkrieges verfasste »Dialektik der Aufklärung«. Die zunehmenden Krisenverwerfungen, die den Spätkapitalismus aufgrund seiner inneren Widerspruchsentfaltung charakterisieren, sie werden auf den Juden als deren Ursache projiziert. Das antisemitische Wahnbild des ewigen Juden dient somit als die Personifizierung der zunehmenden negativen Folgen kapitalistischer Vergesellschaftung, die somit externalisiert werden. Das System, zumeist als Nation, als »Volksgemeinschaft« begriffen, kann so als potenziell natürlich, harmonisch angesehen werden – wenn es nur diese Juden nicht gäbe.

Offensichtlich geht der Antisemitismus somit über den »gewöhnlichen« Rassismus hinaus, wie er gegenüber Muslimen, Ausländern, Afrikanern praktiziert wird. Der Jude gilt dem Antisemiten nicht nur als Parasit, er scheint auch zugleich allmächtig zu sein, Teil einer halluzinierten globalen Verschwörung, die zumeist mit der Finanzsphäre oder mit den vermittelten, »abstrakten« Formen kapitalistischer Herrschaft (Politik, Rechtsprechung, Medien) in Zusammenhang gebracht wird. Die mittelalterliche Rolle der Juden als ausgestoßene »Geldverleiher« bleibt in der antisemitischen Ideologie an ihren haften, obwohl sie schon im Spätmittelalter von aufstrebenden Christen verdrängt werden – etwa im Zuge der antijüdischen Pogrome in den Reichsstädten.

Antisemitismus ist somit auch eine Projektion der Antisemiten, bemerkte die »Dialektik der Aufklärung«: »Im Bild des Juden, das die Völkischen vor der Welt aufrichten, drücken sie ihr eigenes Wesen aus. Ihr Gelüste ist ausschließlicher Besitz, Aneignung, Macht ohne Grenzen, um jeden Preis.« Die Verschwörung (etwa gegen »Parteifreunde«) ist ein alltägliches Machtmittel der populistischen Politiker, die über eine jüdische Verschwörung fantasieren. Der – geizige wie gierige – kleinbürgerliche Krämergeist, in der Anpassung an den zunehmenden kapitalistischen Konkurrenzdruck erworben, projiziert seine unbewusst negativ empfundenen Charaktermerkmale auf »den Juden«.

Indes wird die antisemitische Abspaltung der abstrakten Momente kapitalistischer Vergesellschaftung, insbesondere die falsche Gegenüberstellung zwischen dem nationalen »schaffenden« und dem jüdischen »raffenden« Kapital, nur unter Reflexion des fetischistischen Charakters subjektloser Herrschaft im Kapitalismus vollauf verständlich. Fetischismus meint hier nicht die bloße Illusion, sondern die bittere Realität einer Verselbstständigung aller Aggregatzustände des Verwertungsprozesses des Kapitals (Waren, Geld und Lohnarbeit) gegenüber den Marktsubjekten. Die Insassen der spätkapitalistischen Tretmühle erarbeiten buchstäblich die widerspruchzerfressene Kapitaldynamik, die sich ihnen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene in Form sich krisenbedingt zuspitzender Sachzwänge manifestiert. Das Gefühl der Heteronomie, des Ausgeliefertseins an übermächtige, naturhaft erscheinende Gesellschaftskräfte, es rührt gerade von dieser gesamtgesellschaftlichen »Verselbstständigung« des Kapitalverhältnisses gegenüber den Marktsubjekten her.

Marx prägte für diese fetischistische Eigendynamik des Kapitals den Begriff des automatischen Subjekts. Der Automatismus der widerspruchsgetriebenen uferlosen Kapitalakkumulation, er tritt den Menschen mit einer »subjekthaften« Festigkeit entgegen. Tatsächlich sei »der Wert hier das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwertet«, so Marx im 4. Kapitel seines Hauptwerks »Das Kapital«. Somit handelt es sich beim Kapitalverhältnis um eben ein eigendynamisches und widerspruchserzeugendes Gesellschaftsverhältnis, das erst in seiner uferlosen, unter Formwandel ablaufenden (Geld-Ware-Mehrgeld) Verwertungsbewegung begriffen werden kann.

Und es sind gerade die abstrakten Momente dieser fetischistischen Verwertungsbewegung des Kapitals als eben jenes Marxsche »automatische Subjekt«, an die das verdinglichte Bewusstsein des Antisemiten seine Projektionen andockt – wobei die zunehmenden inneren Widersprüche des Akkumulationsprozesses des Kapitals im antisemitischen Bild des Juden personifiziert werden. Die realabstrakte Verwertungsbewegung des Kapitals zerfällt in der antisemitischen Ideologie in verdinglichte, erstarrte Teile: ins Abstrakte und ins Konkrete. Sobald das Kapitalverhältnis aufgrund eskalierender innerer Widersprüche in eine schwere Krise gerät, scheint dem Antisemiten somit eine jüdische Verschwörung in der Finanzsphäre um sich zu greifen. Das, was mit ehrlicher Hände Arbeit vom nationalen Unternehmer hergestellt wurde, kann ja dem verdinglichten Bewusstsein zufolge nicht »böse« sein, dieses »Böse« muss in der unverstandenen Finanzsphäre gesucht werden.

Der Antisemit spürt somit die eigene Heteronomie, er spürt, dass er, dass die Menschen, nicht »Herr« in ihrem eigenen gesellschaftlichen Haus sind, dass sie einer realabstrakten, widerspruchserzeugenden Dynamik ausgesetzt sind. Dies könne im antisemitischen Wahn nur auf die Machenschaften des Juden zurückzuführen sein – die mit der Krisenintensität zuzunehmen scheinen. Deswegen bringt der Antisemitismus solche Absurditäten hervor wie die Halluzination, die Juden seien an der Flüchtlingskrise schuld. Die gegenwärtigen antisemitischen Kampagnen arbeiten dabei mit einem impliziten Antisemitismus, bei dem Juden zur Zielscheibe werden, die anscheinend den antisemitischen Ressentiments nahekommen. Deswegen wurde in Ungarn, wo Dutzende NGOs, westliche Parteistiftungen sowie Vorfeldorganisationen Berlins und Washingtons tätig sind, eine Kampagne ausgerechnet gegen die Soros-Foundation losgetreten, die von einem jüdischen Milliardär finanziert wird. Ähnlich motiviert, wenn auch kleiner dimensioniert, war die Kampagne des deutschen Internetmobs gegen die »Kahane-Stiftung«: Von den Dutzenden von Projekten, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren, erwischte es just dasjenige, das von der Tochter jüdisch-kommunistischer Eltern gegründet wurde.

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