„Junge Welt“, 12.10.2012
Umfragen vor Parlamentswahlen prognostizieren Abfuhr für Rechtskoalition. Aussichtsreiche Sozialdemokraten versprechen graduelle Abkehr von Kahlschlagspolitik
Litauen steht aller Voraussicht nach vor einem Machtwechsel. Die Litauer werden bei der ersten Runde der Parlamentswahlen am kommenden Sonntag laut WahlprogÂnosen die regierende Rechtskoalition um Andrius Kubilius in die Opposition schicken und damit der Austeritätspolitik, die diese verfolgt, eine deutliche Absage erteilen. Mit dem wahrscheinlichen Sieg der Sozialdemokraten von Algirdas Butkevicius, deren Vorsprung in den Umfragen auf zehn Prozent gegenüber der regierenden Vaterlandsunion angewachsen ist, könnte sich auch die Einführung des Euro in dem baltischen Staat verzögern.
Litauen gilt in der westlichen Presse – wie die übrigen baltischen Staaten auch – als ein gelungenes Beispiel einer rigiden Haushaltskonsolidierung. Doch die sozialen und wirtschaftlichen Folgen dieser Kürzungspolitik seien verheerend, wie Butkevicius ausführte: »Wenn sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht bessert, könnte es soziale Zusammenstöße in diesem Winter geben, sobald die Heizkosten steigen.« Den vorherrschenden Unmut über das Spardiktat brachte eine Arbeiterin gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters zum Ausdruck: »Die Situation ist unerträglich, halb Litauen ist emigriert.« Die Baltenrepublik, die mit einer Arbeitslosenquote von 13 Prozent zu den ärmsten EU-Ländern zählt, hat sich noch immer nicht von dem gigantischen Einbruch um 15 Prozent erholt, der 2009 durch eine Kombination aus Wirtschaftskrise und drakonischen Kürzungen ausgelöst wurde.
Die Sozialdemokraten versprechen zumindest eine graduelle Abkehr von dieser Kahlschlagspolitik: Der Mindestlohn soll angehoben, ein progressiver Einkommenssteuersatz wieder eingeführt werden. Überdies plädiert Butkevicius für eine Verschiebung des für 2014 anvisierten Beitritts Litauens zur Euro-Zone, der frühestens 2015 realisiert werden soll. Die feste Anbindung der litauischen Währung an den Euro und das Bemühen der Regierung Kubilius, die Euro-Stabilitätskriterien zu erfüllen, bildeten die wichtigsten Triebkräfte der Austeritätspolitik in Litauen. Als Folge dieses knallharten Sparkurses, bei dem Steuererhöhungen und Kürzungen im Umfang von zwölf Prozent des BIP vorgenommen wurden, weist Litauen nun die europaweit höchste Emigrationsrate auf: Allein 2011 verließen rund 54000 Litauer ihr gerade mal drei Millionen Einwohner zählendes Land.
Die Sozialdemokraten haben sich bereits für eine Koalition mit der linksÂorientierten Arbeitspartei des russischstämmigen Unternehmers Viktor Uspaskich ausgesprochen, die in den Umfragen auf dem zweiten Platz rangiert. Die derzeitige Regierungspartei kommt nur noch auf Platz vier, ihre rechten Koalitionspartner liegen unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde. Diese Koalitionspräferenzen der Sozialdemokraten drücken deren Bestreben aus, das zuletzt von Kubilius arg strapazierte Verhältnis zu Moskau zu normalisieren. Butkevicius sprach sich für den Ausbau »konstruktiver Beziehungen« zu Rußland aus, die durch eine Klage Litauens gegen den russischen Gasmonopolisten Gazprom – dem die Abrechnung überhöhter Gaspreise vorgeworfen wird – sehr belastet wurden.
Dennoch bleibt es höchst ungewiß, ob die Sozialdemokraten unter ÂButkevicius eine Abkehr vom Neoliberalismus und der Konfrontationspolitik gegenüber Moskau tatsächlich umsetzen können. Zum einen beteuerte der Sozialdemokrat gegenüber westlichen Pressevertretern, trotz der beabsichtigten Reformen weiterhin dem Kurs einer schnellen Haushaltskonsolidierung treu zu bleiben. »Ich möchte die Einkünfte der ärmsten Einkommensbezieher zumindest ein ganz kleines bißchen anheben, damit die Menschen wieder etwas Vertrauen in den Staat schöpfen«, so Butkevicius. Es werde unter den Sozialdemokraten aber »keine Revolution« in der Haushaltspolitik geben.
Zudem gilt auch Dalia Grybauskaite, die derzeitige Präsidentin Litauens, als eine strikte Verfechterin harter Sparpolitik und eines baldigen Beitritts des Landes zur Euro-Zone. Die ehemalige EU-Kommissarin für Finanzplanung und Haushalt kann Einfluß auf die Regierungsbildung ausüben, da sie laut Verfassung den Ministerpräsidenten ernennt. Neben den neoliberal-konservativen Kräften haben auch die litauischen Faschisten in Gestalt einer Wahlkoalition unter dem Namen »Für Litauen in Litauen« durchaus Chancen, in der künftigen politischen Landschaft eine Rolle zu spielen. Während Vertreter dieses Vier-Parteien-Bündnisses in Fernsehinterviews die »Aushöhlung der Wurzeln der litauischen Nation« beklagen, lassen sich deren Kandidaten auf ihren Wahlplakaten mit Hakenkreuz-Krawatten ablichten – oder sie verteilen antisemitische Flugblätter, in denen Juden vorgeworfen wird, Geld von der litauischen Regierung zu erhalten.