Neue Weltordnungskriege

„Junge Welt“, 29.08.2012
Analyse. Imperialismus und Krise – Teil II (und Schluß): Der Kampf um Ressourcen und die Entstaatlichung der »Dritten Welt«

Libyen existiert nicht mehr. Nachdem die westliche Militärmaschinerie die Aufstandsbewegung gegen das Regime Muammar Al-Ghaddafis zum Sieg gebombt hat, zerfällt der libysche Staat in eine Vielzahl konkurrierender Machtgruppen und Territorien. Die unübersichtlichen Fronten in den Auseinandersetzungen, die weite Teile des Landes ergriffen haben, verlaufen zwischen verschiedenen klanartig organisierten Milizen, die weite Landstriche kontrollieren, zwischen ostlibyschen Separatisten, islamistischen Kräften, ethnischen Bevölkerungsgruppen oder einzelnen Städten und Gemeinden. Während im Süden und Westen des Landes immer wieder blutige Kämpfe aufflackern, drohte Mitte August das Chaos auch auf die Hauptstadt Tripolis überzugreifen, als eine Serie von Autobombenanschlägen gegen Sicherheitseinrichtungen die Illusion einer Stabilisierung Libyens im Gefolge der Wahlen zerstörte.

Selbst der US-Sender CNN mußte in einem Hintergrundbericht einräumen, daß Libyen ein Jahr nach der westlich unterstützten »Revolu­tion« immer noch äußerst »labil« sei. Die Rebellenarmee habe aus »Hunderten von Milizen« bestanden, so CNN, die nach dem Sturz Ghaddafis ihre Waffen einfach behalten haben und nun eine Gewaltherrschaft in den Städten und Regionen ausüben, die sie okkupieren. Deswegen sei die Sicherheitslage in dem Land »im höchsten Maße fragmentiert«, so die diplomatische Umschreibung des US-Senders. Die Brutalität, mit der diese Milizen ihre Gegner ausschalten, soll laut Berichten von Amnesty International der des Ghaddafi-Regimes in nichts nachstehen. An die 4000 Gefangene sollen sich in den Händen dieser Milizen und Banden befinden, in deren Territorien das Gewaltmonopol des libyschen »Staates« endet.

Irak – Libyen – Syrien

Diese Entwicklung erinnert auffallend an die nationalstaatlichen Desintegrationsprozesse, die den Irak im Gefolge der US-Invasion erschütterten. Nach dem raschen und offensichtlich mühelosen Sturz des Baath-Regimes wurde das Zweistromland von einem lang anhaltenden Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten erfaßt, der ebenfalls mit ausufernder Milizbildung, separatistischen Tendenzen und einer »Fragmentierung der Sicherheitslage« einherging. Letztendlich fand ein Großteil der militärischen Auseinandersetzung im Rahmen der innerirakischen Machtkämpfe statt, die immer noch nicht abgeflaut sind, wie die jüngste Anschlagsserie Anfang August offenbarte. Tatsächlich gab es im Irak keinen geschlossenen, »nationalen« Widerstand gegen die US-Besatzung, die nur von einzelnen Bürgerkriegsparteien oder Milizen zeitweise angegriffen wurde – seien es nun sunnitische Al-Qaida Gruppen oder die schiitischen Sadr-Milizen. Gerade der zersplitterte Widerstand gegen die US-Army legte offen, daß es so etwas wie eine einheitliche irakische Nation nicht mehr gibt.

Schließlich scheint sich gegenwärtig auch Syrien in einem ähnlichen gewaltförmigen Prozeß der »Entstaatlichung« zu befinden wie Libyen und der Irak. Auch hier fand eine ausufernde Milizbildung statt, auch hier nehmen in Wechselwirkung mit der äußeren Intervention die Auseinandersetzungen einen ethnisch-konfessionellen Charakter an, da die von den reaktionären Golf-Despotien gestützten sunnitisch-fundamentalistischen Kräfte innerhalb der Aufstandsbewegung an Auftrieb gewinnen. Neben den kurdischen Regionen, in denen bereits jetzt kurdische Milizen de facto die Macht übernommen haben, spekulieren Geopolitiker auch über einen alawitischen »Rumpfstaat«, der entstehen könnte, sollte das syrische Regime die Aufstandsbewegung nicht mehr niederwerfen können. »Die Idee, an Syrien in der gegenwärtigen Form festzuhalten, ist für Assad inzwischen sehr schwer zu realisieren«, erklärte der libanesische Militärstratege Elias Hanna gegenüber der Nachrichtenagentur AP: »Ein Rückzug auf einen alawitischen Staat ist sein Plan B.«

In der traditionellen antiimperialistischen Interpretation dieser Prozesse staatlichen Zerfalls im arabischen Raum bilden die Interventionen der imperialistischen westlichen Mächte deren Ursache. Der Irak und derzeit insbesondere Syrien sind die Schlachtfelder bei dem Kampf des Westens um die Dominanz in dieser rohstoffreichen Region. Der gesamte Nahe und Mittlere Osten ist ja tatsächlich von einer Art neuem »Kalten Krieg« überzogen, der nun in Syrien in eine »heiße« Phase tritt – und bei dem sich der Westen auf der einen und der Iran, Syrien und Rußland sowie China auf der anderen Seite gegenüberstehen. Einige Variationen dieser Sichtweise würden dann noch die staatlichen Zerfallsprozesse als eines der Ziele der imperialistischen Interventionen in der Region deuten, da hierdurch deren Ausbeutung und Unterwerfung erleichtert würden. Es scheint tatsächlich einfacher, beim Verhandlungspoker um das libysche Öl diejenige Gruppierung zu unterstützen, die dem Westen die besten Konditionen anbietet. Somit würde die neoimperialistische Machtpolitik wieder an die Praktiken des klassischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts anknüpfen, der ebenfalls die lokalen Rivalitäten in seinen Kolonien zu instrumentalisieren vermochte.

Dennoch kann der klassische Antiimperialismus nicht erklären, wieso die nationale Staatlichkeit in so vielen Regionen und Ländern der sogenannten »Dritten Welt« in Auflösung begriffen ist und folglich bei den Interventionen des Westens sogleich kollabiert. Der Beginn des 21. Jahrhunderts steht im krassen Kontrast zu der Welle der Staatengründungen in der »Dritten Welt« in Zuge der Entkolonialisierung im 20. Jahrhundert. Während damals ein Aufbruch und eine Modernisierung der jeweiligen Regionen des globalen Südens anzubrechen schienen, fallen nun die Staaten des Trikont reihenweise auseinander. Die Erschütterungen nationalstaatlicher Machtstrukturen in Libyen, dem Irak oder Syrien bilden dabei nur die jüngsten Fälle in einer langen Reihe von »Entstaatlichungskrisen«, die bereits weite Teile des subsaharischen Afrika erfaßt haben. Als prominente Beispiele für gescheiterte Staaten werden für gewöhnlich Somalia, Kongo oder Afghanistan angeführt. Tendenzen zur »Entstaatlichung« lassen sich aber auch in Mittelamerika und insbesondere Mexiko beobachten, wo die Drogenkartelle den Staat offen herausfordern und unterminieren.

»Failed States«

Die westliche Geopolitik hat für diese staatlichen Zerfallsprozesse längst den Begriff des »Failed State«, des »gescheiterten Staates«, geprägt. Während der Antiimperialismus die Zerfallsprozesse im Trikont auf das imperiale Wirken der Großmächte zurückführt, macht der bürgerlich-westliche Diskurs die Menschen der »Dritten Welt« für ihr Schicksal selbst verantwortlich. Schlechte Politik, Diktaturen, ein übermäßiger Hang zur Kleptokratie oder ausartende Korruption hätten zu der Entstehung von »Failed States« beigetragen und die Unterentwicklung in der »Dritten Welt« verfestigt, so in etwa lautet das Mantra der neoliberal grundierten öffentlichen Erklärungsmuster in den Zentren des kapitalistischen Weltsystems – in denen die neoimperialistischen Realitäten in der »Dritten Welt« konsequent ausgeblendet werden.

Die Frage bleibt also zu beantworten: Wieso scheitern Staaten? Der Staat bildete im globalen Süden nach der Dekolonialisierung die machtpolitisch-organisatorische Form, in der die nachholende Modernisierung dieser Regionen geleistet werden sollte. In einem gewaltigen Kraftakt wollten die meisten Regime der »Entwicklungsländer« den ökonomischen Rückstand zu den Zentren des Weltsystems aufholen. Sie versuchten, vermittels zumeist kreditfinanzierter Investitionsprogramme, eine warenproduzierende Industrie, ja eine nationale Volkswirtschaft überhaupt erst zu entwickeln, die oftmals in den gerade unabhängig gewordenen Ländern nur in Ansätzen als Überbleibsel der kolonialen Plünderungswirtschaft gegeben war. Diese Strategie der »importierten Modernisierung« – die von nahezu allen Entwicklungsregimen unabhängig von ihrer geopolitischen und ideologischen Ausrichtung verfolgt wurde – mißlang auf breiter Front spätestens in der zweiten Hälfte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Ab den 80ern wurde in den jeweiligen Schuldenkrisen dieses »Scheitern der Modernisierung« im globalen Süden offensichtlich, in deren Gefolge sozioökonomische Zusammenbrüche in vielen Regionen einsetzten.

Damit begann ein Gewöhnungseffekt in der westlichen Öffentlichkeit, die davon ausgeht, daß es sich beim sozioökonomischen Zusammenbruch weiter Teile der »Dritten Welt« um eine historische Konstante – und nicht um das Ergebnis eines Prozesses gescheiterter Modernisierung – handelt. Wir haben uns daran gewöhnt, daß Afrika »abgeschrieben« ist. Dieser Zusammenbruch der »Dritten Welt«, zu dessen Rationalisierung hierzulande gerne ein kulturalistisch grundierter Rassismus bemüht wird, bildete nur den Auftakt zu der fundamentalen Krise des gesamten kapitalistischen Weltsystems, die sich in einem dekadenlangen Prozeß von der Peripherie in dessen Zentren frißt. Den Entwicklungsdiktaturen der »Dritten Welt« gelang es nicht mehr, die Kapitalmassen zum Aufbau einer fordistischen Industrie zu akkumulieren, die es ihnen ermöglicht hätte, in den 70ern am Weltmarkt zu bestehen. Mit dem Ausbruch der Krisenperiode der sogenannten Stagflation ab 1973 wurden die Ökonomien im globalen Süden Investitionsruinen, die der zunehmenden Weltmarktkonkurrenz nicht standhalten konnten.

Wenige Jahre später scheiterten übrigens die staatssozialistischen Länder letztendlich an der Durchsetzung der dritten mikroelektronischen Revolution, die noch weitaus größerer Investitionsanstrengungen bedurfte.

Verlorene Generation

Derzeit haben wir es mit einer Krise in den Zentren des kapitalistischen Weltsystems zu tun, die sich mit den Folgen dieser mikroelektronischen Revolution konfrontiert sehen. Der konkurrenzvermittelte Drang des Kapitals, durch permanente Modernisierungsschübe die Warenproduktion immer weiter zu rationalisieren, hat nicht nur die Investitionsaufwendungen und wissenschaftlich-technischen Voraussetzungen zum Aufbau »wettbewerbsfähiger« Produktionsstätten immer weiter in die Höhe getrieben, sondern auch zu einer fundamentalen Krise der kapitalistischen »Arbeitsgesellschaft« geführt, die sich nun in Europa oder den USA Bahn bricht.

Genauso wenig, wie die Renaissance nationaler Großmachtpolitik in Europa eine bloße Wiederholung der Praktiken des 19. Jahrhunderts darstellt (siehe jW-Thema in der gestrigen Ausgabe), bedeutet der Prozeß der »Entstaatlichung« der Peripherie eine etwaige Rückkehr zu früheren »vormodernen« und traditionellen Machtformen. Die Clans, Milizen, Banden und Sekten, die sich derzeit im Windschatten der imperialistischen Interventionen des Westens im arabischen Raum breitmachen, etablieren »entbundene Gewaltstrukturen, wie sie aus dem Zerfall der warenproduzierenden Anti-Zivilisation des Geldes hervorgehen«, erläuterte der Krisentheoretiker Robert Kurz in seinem 2003 erschienenen Werk »Weltordnungskrieg«.

Die endemisch hohe Arbeitslosigkeit, gepaart mit der Verwilderung des Staatsapparates, der nicht mehr aus der Kapitalverwertung finanziert werden kann, bringe eine »verlorene Generation« desorientierter junger Männer hervor, die »auf ihre kapitalistische Überflüssigkeit bösartig reagieren und sich in den hoffnungslosen Milizen« der Zusammenbruchsregionen der Welt wiederfinden, so Kurz. Gen Süden blickend, können wir somit einen Eindruck von der Zukunft der ungehemmten Entfaltung der Krisendynamik erhalten, die letztendlich – sollte sie nicht emanzipatorisch überwunden werden – auch in den Zentren eine Dystopie realisieren wird, die irgendwo zwischen Mad Max und 1984 angesiedelt sein dürfte.

Uneingestanden und unreflektiert hat die imperialistische Praxis der Zentren diesem manifesten Krisenprozeß in der Peripherie längst Rechnung getragen. Es reicht, sich in Erinnerung zu rufen, daß Europas Expansion auch von dem Hunger nach Arbeitskräften, nach »Händen« getrieben war, die bei mörderischer Sklavenarbeit in den Plantagen der »Neuen Welt« ausgebeutet werden konnten. Die Blutspur imperialistischer Ausbeutung von Arbeitskräften der »Dritten Welt« reicht von dem berüchtigten »atlantischen Dreieckshandel« mit afrikanischen Sklaven in der frühen Neuzeit, bis zu der mörderischen Auspressung des Kongos durch die Belgier, die massenhaft Afrikanern die Hände abhacken ließen, falls diese die vorgegebenen Arbeitsnormen nicht erfüllten. Der belgische König Leopold II. reagierte auf entsprechende Anschuldigungen in der Presse geradezu empört: »Hände abhacken, das ist idiotisch! Ich würde eher alles übrige abschneiden, aber doch nicht die Hände. Genau die brauche ich doch im Kongo!«

Exklusion von Arbeitskräften

Niemand würde heutzutage auf die Idee kommen, daß die neoimperialistischen Interventionen der vergangenen Jahre und Dekaden ausgerechnet deswegen geführt wurden, um die »Hände« der einheimischen Bevölkerung zur Fronarbeit zwingen zu können. Die expandierende Vernutzung von Arbeitskräften des globalen Südens in der Aufstiegs- und Hochphase des kapitalistischen Weltsystems ist in das Gegenteil umgeschlagen – in die Exklusion von Arbeitskräften. Tatsächlich bildet die Abschottung der verbliebenen relativen »Wohlstandsinseln« der Zentren vor den verzweifelten Flüchtlingen der Peripherie ein wichtiges Moment imperialistischer Strategien etwa der EU, die über die Einflußnahme auf die Regime Afrikas und des Nahen Ostens weit im Vorfeld der eigenen Grenzen massenhafte Migrationsbewegungen zu unterbinden versucht. Im Idealfall sollen die Ausgestoßenen des Weltmarktes, die weiterhin dem Terror des Werts ausgesetzt bleiben – da sie ihr Leben unter Verwertung ihrer Arbeitskraft reproduzieren müßten, ohne dazu noch in der Lage zu sein – , schon in ihren Heimatländern an der Flucht aus der Anomie gehindert werden, die ihre Herkunftsländer ergriffen hat.

Etliche Interventionen des Westens in den Zusammenbruchsgebieten der »Dritten Welt« hatten folglich tatsächlich deren »Stabilisierung« zum Ziel, wobei hierunter das »Nation Building«, die Errichtung nationalstaatlicher Machtstrukturen, zu verstehen ist. Durch den Aufbau eines abhängigen und hörigen Staatsapparates sollten die politischen, ökonomischen und militärischen Störpotenziale minimiert werden. Als Paradebeispiele für diese Art krisenimperialistischer Intervention können die Einsätze in Somalia (1993) und Afghanistan (ab 2001) gewertet werden, bei denen sich die westlichen Truppen mit den Zerfallsprodukten der Krise des kapitalistischen Weltsystems – mit klanartigen Banden und islamistischen Milizen – auseinandersetzen mußten. Auch die gegenwärtigen Marineeinsätze gegen die Zusammenbruchsökonomie, die von den somalischen Piraten aufgebaut wurde, fügen sich in dieses Muster. Die anhaltende Erfolglosigkeit dieses Vorgehens resultiert vor allem daraus, daß hier die kapitalistischen Großmächte gegen die Gespenster vorgehen, die die Krise des Kapitals selber hervorbringt.

»Jahrhundert des Mangels«

Den zentralen Faktor bei den neoimperialistischen Interventionen der vergangenen Jahre stellt aber das Streben nach der Sicherung von Ressourcen dar. Hierin spiegelt sich die an Brisanz gewinnende Rohstoffkrise der globalen kapitalistischen Verwertungsmaschinerie. Je stärker sich die Engpässe bei der Versorgung mit Energieträgern und Rohstoffen abzeichnen, desto intensiver ist das Bemühen der Großmächte, vermittels der Kontrolle von Rohstoffquellen entscheidende strategische Vorteile zu erringen. Was die Zentren des kapitalistischen Weltsystems von der Peripherie wollen, sind somit ausschließlich deren Ressourcen, die ausgebeutet und in die »Erste Welt« verfrachtet werden sollen – während die Bevölkerung dieser Regionen ausgegrenzt und an Fluchtbewegungen gehindert wird.

Das Aufkommen dieses Krisenimperialismus hat längst zu einer entsprechenden Umstrukturierung der militärischen Apparate der Zentren geführt, die auf den Aufbau hoch­flexibler Hightech-Eingreiftruppen abzielt. Generalstabsoffizier Reinhard Herden, Bereichsleiter für Analysen und Risikoprognosen des Amtes für Nachrichtenwesen der Bundeswehr, brachte diesen Wandel mit der für Militärs üblichen Menschenverachtung schon zu Beginn des entsprechenden Umbaus der Bundeswehr auf den Punkt. Laut Herden werden in diesem Jahrhundert »die jetzt in Frieden lebenden wohlhabenden Staaten gegen die Völker der armen Staaten und Regionen ihren Wohlstand verteidigen müssen. Der Menschheit steht ein Jahrhundert des Mangels bevor. Um Dinge, die man einmal kaufen konnte, wird man Krieg führen müssen.« Das poststaatliche Feindbild, das den Neoimperialisten des 21. Jahrhunderts aus der fortschreitenden Krisendynamik erwachsen werde, umschrieb Herden als archaische »Krieger«, als »Banditen, die keine Loyalität kennen, aus Gewohnheit Gewalt anwenden und an Recht und Ordnung kein Interesse haben«.

Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen lohnt sich ein abermaliger Blick auf die Umwälzungen, die den arabischen Raum seit 2011 ergriffen haben. Der Impuls zu den Aufständen, die auch den Westen völlig überraschend trafen, ging von der einheimischen Bevölkerung aus, die sich aufgrund des voranschreitenden Krisenprozesses in einer unerträglichen Lage befindet. Die innere und äußere Schranke des Kapitals manifestiert sich in diesen Ländern in einer erdrückend hohen Arbeitslosigkeit, die vor allem bei Jugendlichen oft mehr als 50 Prozent beträgt, und den rasanten Preissteigerungen bei Lebensmitteln, die kurz vor Ausbruch der ersten Proteste die Stimmung zusätzlich anheizten. Der elementare, unreflektierte Impuls zur Rebellion gegen ein System, das immer größeren Teilen der Bevölkerung schlicht die Lebensgrundlagen entzieht, ist vor allem bei den ersten Aufständen in Tunesien und Ägypten dominant gewesen, die aber trotz eines oberflächlichen »Regime Change« im bestehenden System »stecken blieben« und folglich auch keine Revolutionen darstellen. Ohne eine emanzipatorische Perspektive jenseits des kapitalistischen Begriffshorizontes schlugen diese Bewegungen in Resignation oder reaktionären Islamismus um.

Erst Monate nach dessen Beginn wurde der Aufruhr in der arabischen Welt im Rahmen des neuen »Kalten Krieges« um die Rohstoffe der Region instrumentalisiert. Die westliche Unterstützung der Aufstandsbewegungen in Libyen und derzeit in Syrien folgt offensichtlich dem Kalkül, die langfristige Kontrolle über die Energieträger der Region zu erlangen, indem unsichere Kantonisten (Ghaddafi) und Verbündete Irans (Assad) ausgeschaltet werden. Dabei werden unterschiedslos all jene unterstützt, die sich gegen diese Regimes wenden – wobei hiervon nicht zuletzt diejenigen extremistisch-islamistischen Kräfte profitieren, die der Westen in anderen Regionen der Welt noch bekämpft. Zusammenbruchsideologien wie der Islamismus werden nicht nur von der Krise des Kapitalismus hervorgebracht, die Großmächte haben auch keine Skrupel, sich ihrer zu bedienen, wenn es in ihr Kalkül paßt.

Vom Weltmarkt verwüstet

Entscheidend bei diesem Machtkampf um die Rohstoffe des Nahen Ostens ist aber die »objektive« Krisentendenz, die aus der kapitalistischer Warenproduktion resultiert und einen »objektiven« Entstaatlichungsprozeß in der Region befördert, der sich gerade vermittels der »subjektiven« imperialistischen Machtkämpfe in der Region realisiert.

Die Peripheriestaaten stellen nur noch verwildernde Attrappen gescheiterter staatskapitalistischer Modernisierungsbemühungen dar, die beim geringsten Anstoß die ihnen innewohnenden anomischen Zentrifugalkräfte freisetzen. Doch auch die neoimperialistischen Kernländer werden immer deutlicher als »Papiertieger« erkennbar, die ihre Interventionen aufgrund einer angespannten Haushaltslage kaum noch im gewünschten Ausmaß finanzieren können. Auch dies wurde bei der Aggres­sion des Westens gegen Libyen deutlich, die ohne Unterstützung der US-Militärmaschinerie kaum den gewünschten Erfolg gezeitigt hätte.

Auch diese Entwicklung hat Robert Kurz prognostiziert. Der Versuch, die vom »Weltmarkt verwüsteten Territorien im Zaum zu halten«, sei zum Scheitern verurteilt, so Kurz. Er könne sich aber »quälend lange hinziehen, solange der Crash der Finanzmärkte die weltdemokratische Hybris nicht in ihre Schranken weist und der Weltpolizei die finanzielle Grundlage entzieht«.

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