„Junge Welt“, 25.02.2012
Rußlands Premier will aufrüsten. Das soll einen Modernisierungsschub für die Gesamtwirtschaft bringen. Marode Industrie und Korruption stehen dagegen
Wladimir Putin hat Großes mit den russischen Streitkräften vor. Rund zwei Wochen vor der Präsidentschaftswahl in Rußland legte der Regierungschef seine Vorstellungen einer künftigen Verteidigungspolitik dar. In einem Beitrag für die Rossijskaja Gaseta plädierte er für eine »beispiellose« Aufrüstung und Modernisierung der Streitkräfte innerhalb der laufenden Dekade. Diese wolle er als künftiger Präsident durchsetzen. Stärke bilde »die Garantie der nationalen Sicherheit«, schrieb Putin in dem Zeitungsbeitrag, in dem er zugleich an die »gewaltigen menschlichen Verluste« der Sowjetunion in Zweiten Weltkrieg erinnerte. Auch derzeit gebe es Versuche, in »unmittelbarer Nachbarschaft« kriegerische Auseinandersetzungen anzuzetteln, warnte er.
Umgerechnet 580 Milliarden Euro will Putin für dieses Modernisierungsvorhaben ausgeben. Unter anderem ist bei Putin die Anschaffung von 20 U-Booten, 50 Kriegsschiffen, 400 Interkontinentalraketen, 600 Kampfflugzeugen, 1000 Hubschraubern, 1700 Militärfahrzeuge und 2300 Kampfpanzer vorgesehen. Von diesen Massenaufträgen soll fast ausschließlich die russische Rüstungsindustrie profitieren. Großaufkäufe ausländischer Waffen – wie zuletzt des französischen Hubschrauberträgers »Mistral« – seien nicht mehr vorgesehen. Ankäufe westlicher Waffen soll es nur zu einem Zweck geben: »Die Anschaffung von einzelnen Mustern im Ausland ist möglich und als Zugang zu fortgeschrittenen Technologien notwendig«, so Putins Credo.
Die geplanten Neuanschaffungen sind Teil einer tiefgreifenden Militärreform. Kernstück ist es, die auf der Wehrpflicht fußenden Streitkräfte in eine agile Berufsarmee umzustrukturieren. Die Zahl der Berufssoldaten soll hierbei von derzeit 186000 Personen auf 425000 im Jahr 2017 erhöht und der aufgeblähte Führungsapparat halbiert werden. Die Befehlsketten seien zu verkürzen. Massive Investitionen sind zudem bei der »Weltraumverteidigung« geplant. Dies könnte zugleich als eine Antwort auf die Pläne zur Errichtung einer »Raketenabwehr« der NATO gedacht sein. In diesem Zusammenhang ist auch die bereits beschlossene Entwicklung einer neuen Interkontinentalrakete durch die russische Militärindustrie zu sehen. Es gelte, die Transformation des »dysfunktionalen« russischen Massenheeres zu einer »professionellen High-Tech-Armee«, ähnlich den Streitkräften der USA oder Großbritanniens, zu bewerkstelligen, schrieb die Financial Times in einer Analyse.
Aufzurüsten bedeutet für Putin auch ein Konjunkturprogramm zur Belebung und Modernisierung der gesamten russischen Ökonomie. Die massiven Konjunkturspritzen für den einzigen international konkurrenzfähigen Industriezweig Rußlands – die Rüstungsindustrie – sollen somit auf andere Wirtschaftszweige und Ressorts ausstrahlen und die lang angestrebte, aber bislang nicht erreichte Modernisierung einleiten. Putin betrachtet die zusätzlichen Aufwendungen für den Militärisch-Industriellen-Komplex als eine Initialzündung, die die Entwicklung anderer Branchen befeuern werde. Hierzu zählt er die Mikroelektronik und Informationstechnologie, die Metallverarbeitung, die Chemie oder den Maschinenbau. Damit soll das Land von einem peripheren Rohstofflieferanten in einen hochentwickelten Industriestaat verwandelt werden.
Die Finanzierung des ehrgeizigen Programms ist noch nicht gesichert. Wirtschaftsliberale Kräfte im Kreml-Umfeld – wie der geschaßte Finanzminister Alexej Kudrin – opponierten gegen das Vorhaben, da es zur weiteren Belastung des Haushalts beitragen würde und die Mittel durch Kürzungen in anderen Ressorts, wie etwa der Bildung, mobilisiert werden müßten.
Mit dem ehemaligen NATO-Botschafter Dimitri Rogosin ist ein zwar populärer nationalistischer Politiker mit der Reform des Militärisch-Industriellen-Komplexes betraut worden. Bislang hat der sich aber vor allem mit populistischen Parolen hervorgetan. Rogosin propagiert einen »großen Sprung nach vorne« für den Militärsektor, der durch eine absonderliche Mischung aus staatlichen Mehrausgaben, Privatisierungen und einen »Freiwilligensdienst« zur Unterstützung der Streitkräfte gelingen soll.
Dabei werden staatliche Mehrinvestitionen den in Korruption und Vetternwirtschaft verhafteten sowie von oligarchischen Netzwerken durchzogenen Militärisch-Industriellen-Komplex kaum reformieren können. Die Fertigungsqualität der Industrie ist inzwischen so weit gesunken, daß selbst russische Spitzenmilitärs nach Alternativen rufen. Der Einkauf der zwei französischen Mistral-Träger im vergangenen Jahr sollte als ein Warnsignal an die heimischen Waffenhersteller fungieren, endlich den Qualitätsanforderungen der Streitkräfte zu genügen. Im vergangenen Sommer drohte der Verteidigungsminister sogar damit, künftig keine Panzer aus heimischer Produktion mehr zu kaufen. Die Streitkräfte haben schon israelische Drohnen oder österreichische Scharfschützengewehre angeschafft. Die Auseinandersetzungen zwischen Verteidigungsministerium und Verteidigungsindustrie um Preise und Qualität ziehen sich schon seit Jahren in die Länge, ohne daß es signifikante Fortschritte gibt. Die in Rußland allgegenwärtigen mafiotischen Netzwerke sind längst auch im Militärisch-Industriellen-Komplex verankert, der oftmals zu einem Selbstbedienungsladen verkommt. Beispielsweise ermittelte Mitte vergangenen Jahres die russische Staatsanwaltschaft in St. Petersburg gegen einen Schiffsbauer, der staatliche Rüstungsaufträge im Wert von umgerechnet 212 Millionen US-Dollar »zweckentfremdet« hatte.