„Junge Welt“, 04.01.2012
Massenproteste gelten Ungarns Rechtsregierung und der neuen Verfassung
Ungarns rechte Politikelite versammelte sich am Montag abend in der Budapester Oper, um das Inkrafttreten der neuen ungarischen Verfassung mir einem Festakt zu feiern. Die Rechtskoalition aus Ungarischem Bürgerbund (Fidesz) und den Christdemokraten konnte das neue Grundgesetz, mit dem die 1989 eingeführte Verfassung abgelöst wird, dank einer Zweidrittelmehrheit im Parlament im Alleingang ohne größere gesellschaftliche Konsultationen verabschieden. Unterdessen protestierten Zehntausende Ungarn gegen dieses neue Grundgesetz in einer der größten Demonstrationen seit dem Wahlsieg der Rechtskoalition um Ministerpräsident Viktor Orbán.
Die Demonstration, zu der eine Vielzahl von Nichtregierungsorgsanisationen und Oppositionsparteien aufgerufen hat, stand unter dem Motto »Es wird wieder eine Republik geben«, um gegen die Streichung des Begriffs »Republik« zu protestieren. In Redebeiträgen wurde das neue Grundgesetz als ein Instrument zum Abbau der Demokratie in Ungarn gebrandmarkt. Tatsächlich unterminiert es selbst die formelle bürgerliche Gewaltenteilung im Land, indem die Machtmittel des ungarischen Verfassungsgerichts stark beschnitten und die Einflußmöglichkeiten der Regierung auf das gesamte Justizsystem stark ausgeweitet werden. Hunderte Richter – inklusive des Präsidenten des Verfassungsgerichts – müssen aufgrund der neuen Bestimmungen ihre Posten räumen. Diese freiwerdenden Stellen wird die neue regierungsnahe Institution des »Nationalen Juristischen Büros« besetzen.
In bereits verabschiedeten Verfassungszusätzen wird ausgerechnet die neoliberal deformierte Sozialistische Partei Ungarns (MSZP) als Rechtsnachfolgerin der bis 1989 in Ungarn regierenden Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) benannt, wodurch offenbar die strafrechtliche Verfolgung dieser ehemaligen Regierungspartei vorbereitet werden soll. Deren ehemaliger Vorsitzender und Regierungschef Ferenc Gyurcsány sieht sich bereits mit einer Anklage wegen Machtmißbrauchs konfrontiert. Zudem wurden wichtige Machtpositionen durch eine enorme Ausweitung der Amtszeit für mehrere Legislaturperioden von der Fidesz okkupiert.
Die neue Verfassung wird von einem Bündel weiterer Gesetze begleitet, die das von den Rechten dominierte Parlament in regelrechter parlamentarischer Akkordarbeit ohne größere Diskussion verabschiedete. So haben Ungarns Abgeordnete 2011 an 98 Sitzungstagen 213 neue Gesetze auf den Weg gebracht. Das kurz vor dem Jahreswechsel verabschiedete ungarische Wahlgesetz soll nach Oppositionsangeben die regierende Fidesz stark begünstigen, die hierbei die neuen Wahlkreise zu ihren Gunsten geformt habe. Mittels neuer Arbeitsgesetze wurden hingegen die Gewerkschaftsbewegung Ungarns marginalisiert und Streiks de facto illegalisiert. In der EU sorgen vor allem die Bestrebungen Orbáns für Empörung, die Kontrolle über die ungarische Zentralbank zu übernehmen.
Ein weiteres Kampffeld in der zunehmend polarisierten ungarischen Gesellschaft bilden die Medien, die Fidesz mittels eines rabiaten Mediengesetzes und einer ausufernden Säuberungswelle unter Kontrolle bringen will. Am 29. Dezember eskalierten die Proteste vor der Zentrale des staatlichen ungarischen Fernsehens, als die Fernsehbehörde private Sicherheitsdienste gegen im Hungerstreik befindliche ehemalige Angestellte einsetzte. Die Mitarbeiter waren gekündigt worden, da sie gegen offene Manipulationen in einem Nachrichtenbeitrag protestiert hatten, zu denen sie von ihren Vorgesetzten gezwungen worden seien. In einer Stellungnahme bezeichnete die von der Fidesz kontrollierte Medienbehörde MTVA den Hungerstreik als »illegal« und als eine »Provokation für den Arbeitgeber«, wie die Zeitung Pester Lloyd berichtete.