„Junge Welt“, 14.11.2011
Die Ukraine will ein Freihandelsabkommen mit der EU Âunterzeichnen. Parallel verhandelt Kiew mit Moskau
Julia Timoschenko wird sich wohl auf einen längeren Aufenthalt in den Gefängnissen der Ukraine einstellen müssen. Gegen die ehemalige ukrainische Regierungschefin, die bereits wegen Amtsmißbrauchs zu einer siebenjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, strengt die Kiewer Staatsanwaltshaft weitere Verfahren an. Neben Ermittlungen wegen Steuerhinterziehung auf Einnahmen von 165 Millionen US-Dollar in den 1990er Jahren prüft die Anklagevertretung auch eine eventuelle Verstrickung Timoschenkos in den Mord an dem Oligarchen Jewhen Schtscherban im November 1996.
Diese neuen Anschuldigungen gegen die ehemalige Ikone der westlich finanzierten »Orangen Revolution« dürften die Spannungen zwischen Brüssel und Kiew zusätzlich anheizen. EuropäiÂsche und US-amerikanische Politiker haben die Verurteilung Timoschenkos wegen eines »zum Nachteil der Ukraine« abgeschlossenen Gasvertrages mit Rußland als politisch motiviert kritisiert. Obwohl aufgrund des Konflikts eine Brüssel-Visite des ukrainischen Staatschefs Viktor Janukowitsch Mitte Oktober abgesagt wurde, hält die EU dennoch an dem geplanten Gipfeltreffen in Kiew am 19.Dezember fest. Hierbei soll das Assoziierungs- und Freihandelsabkommen zwischen der EU und der Ukraine unterzeichnet werden, das den osteuropäischen Staat in den Orbit des Westens einbinden soll. Ende letzter Woche erklärte der ukrainische Ministerpräsident Mykola Asarow, daß der gesamte Text des Assoziierungsabkommens bereits unterschriftsreif sei. Selbst Timoschenko sprach sich in einem Brief aus dem Gefängnis für die Unterzeichnung des Vertrages aus.
Dies ist aber nicht die einzige internationale Kooperationsvereinbarung, die derzeit von Kiew auf den Weg gebracht wird. Am selben 11. November initiierte die ukrainische Regierung auch den Ratifizierungsprozeß eines Freihandelsabkommens zwischen etlichen Ländern der postsowjetischen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Dieses von Rußland forcierte Integrationsprojekt sieht den weitgehenden Abbau von Zollschranken und Exportbeschränkungen zwischen Rußland, der Ukraine, Belarus, Kasachstan, Armenien, Kirgisien, Moldawien und Tadschikistan vor.
Dieser Beitritt Kiews zur Freihandelszone der GUS – die der Kreml gerne zu einem östlichen Gegengewicht zur EU ausbauen möchte – dürfte auch die sich abzeichnende Einigung im alljährlichen »Gasstreit« zwischen Kiew und Moskau befördert haben. Die Ukraine drängt auf eine Revision der von Timoschenko ausgehandelten langfristigen Lieferverträge. Laut Energieminister Jurij Bojko sind die »Schlüsselfragen« bei den Verhandlungen bereits gelöst worden. Der russische Nachrichtendienst »Russia Today« berichtete unterdessen, daß Kiew eine Zustimmung zum WTO-Beitritt Rußlands von einer Absenkung des russischen Gaspreises abhängig gemacht habe.
In einem von der Washington Times am 7. November zitierten Interview verteidigte Regierungschef Asarow das Lavieren der Ukraine zwischen Ost und West. Er sehe »keinen Konflikt« in dem Bestreben seines Landes, sowohl mit der Europäischen Union wie auch mit postsowjetischen Staaten engere Beziehungen anzustreben: »Die Ukraine liegt zwischen diesen beiden Blöcken, und es ist in unserem Interesse, mit beiden friedvoll zusammenzuleben«, so Asarow. Mit diesem geopolitischen Spagat zwischen Ost und West bemüht sich die ostukrainische Oligarchie, die die Machtbasis von Präsident Janukowitsch stellt, nach Ansicht von Beobachtern, ihre Unabhängigkeit zu bewahren: »Janukowitsch und seine Milliardäre« müßten »Moskau auf Distanz halten«, wenn sie weiterhin »Herr im Hause bleiben« wollten, bemerkte unlängst die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einem Kommentar zur EU-Integration der Ukraine. Dasselbe gilt aber auch für die Haltung Kiews gegenüber der interventionsfreudigen Europäischen Union – mittels der Ostintegration soll die EU davon abgehalten werden, eine Neuauflage der »Orangen Revolution« zu initiieren.