„Junge Welt“, 04.10.2011
Budapest: Mehrere zehntausend Gewerkschafter demonstrierten gegen Novelle des Arbeitsrechts in Ungarn. Arbeitsniederlegungen sind nur erlaubt, wenn sie niemanden stören
Es waren die größten Proteste gegen die ungarische Rechtsregierung seit deren Amtseinführung im Mai 2010: Mehrere Zehntausend Menschen sind am Wochenende in Budapest auf die Straßen gegangen, um gegen die geplante Reform des Arbeitsrechts, die ungerechte Steuergesetzgebung und den schleichenden Abbau demokratischer Grundrechte und Freiheiten zu demonstrieren. Auf Protestbannern wurde der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban als »Viktator« tituliert, um die autoritären Tendenzen innerhalb seiner Rechtsregierung anzuprangern. In der Kritik stehen ein restriktives Mediengesetz und eine reaktionären Verfassung.
Der Vorwurf einer schleichenden autoritären Transformation der ungarischen Gesellschaft schien sich im Vorfeld der Demonstration zu bestätigen. Die Polizei hatte den Protest zunächst verboten, da die »ungestörte Arbeit der Volksvertretung« nicht gewährleistet werden könne und der »Verkehr über Gebühr belastet« würde. Am 26. September wurde das Verbot allerdings gerichtlich aufgehoben.
Die treibende Kraft in der Protestbewegung sind die ungarischen Gewerkschaften, die mit Demonstrationen, Straßenbesetzungen und Sitzstreiks auf einen grundlegenden Politikwechsel drängen. Bereits Mitte September organisierten mehrere Gewerkschaften eine Menschenkette rund um das ungarische Parlament, um gegen das neue Arbeitsrecht zu protestieren, das die stramm rechte Regierungskoalition aus Fidesz und KDNP möglichst schnell durchs Parlament peitschen will. Gewerkschafter sehen in der Gesetzesreform einen fundamentalen Angriff auf die lohnabhängigen Ungarn. Orban hingegen erklärte wenige Tage vor den Massenprotesten, das Gesetz werde »neue Arbeitsplätze schaffen und das gesellschaftliche Ansehen der Arbeit erhöhen.«. Der Gewerkschafter und ehemalige sozialdemokratische Arbeitsminister Laszlo Herczog erklärte hingegen, daß die Regierung eine umfassende Schwächung der Gewerkschaften betreibe, die mit diesem Gesetz durchgesetzt werden solle. Diese Regierungspolitik könne zur Explosion führen.
Erste Änderungen im Streikrecht Ende 2010, die von der Fidesz im Eilverfahren durch das mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit kontrollierte Parlament gebracht wurden, lassen bereits erahnen, was auf die Gewerkschaftsbewegung Ungarns zukommt. De facto ist das Streikrecht bereits abgeschafft
Seit Jahresanfang dürfen in Ungarn Arbeitsniederlegungen im Energie- oder Verkehrssektor nur durchgeführt werden, wenn sich Unternehmensführung und Gewerkschaften auf eine »ausreichende Versorgung« während des Streiks verständigen. Eine Regelung, die den Arbeitskampf ad absurdum führt.
Keine der neun Streikinitiativen, die in diesem Jahr vor der ungarischen Justiz auf ihre »Rechtmäßigkeit« geprüft wurden, ist genehmigt worden. Ein Budapester Arbeitsgericht stellte zudem laut einem Bericht der deutschsprachigen Zeitung Pester Lloyd in in zweiter Instanz fest, daß gegen »Maßnahmen der Regierung nicht gestreikt werden dürfe«. Diese Regelungen richten sich vor allem gegen die starken Gewerkschaften im Transportwesen, die etwa während der Streikwelle des Jahres 2007 – die damals noch von Fidesz unterstützt wurde – gegen die unsoziale Politik der damaligen sozialdemokratischen Regierung protestierten.
Im neuen Arbeitsrecht soll den Arbeiterorganisationen zudem verboten werden, Lohnabhängige bei Gerichtsauseinandersetzungen mit ihren Unternehmen oder bei Behördengängen zu unterstützen oder zu vertreten. Zudem sollen künftig für alle Gewerkschaftsvertreter in den Betrieben der Kündigungsschutz und alle Regelungen zur Arbeitszeitverkürzung aufgehoben werden. Festgeschrieben werden außerdem die Bestimmungen zur Einführung von Zwangsarbeit, die bereits in Kraft getreten sind und unter denen vor allem Angehörige der Minderheit der Roma zu Arbeitseinsätzen in der Landwirtschaft oder bei Großprojekten gezwungen werden.
Die Lohnabhängigen Ungarns sollen mit dem Regelwerk zur größtmöglichen Fügsamkeit dressiert werden. Im Gespräch waren etwa die Einführung verbindlicher Verhaltensauflagen für alle Lohnabhängigen auch außerhalb ihres Arbeitsplatzes. So sollen die Beschäftigten in ihrer Freizeit von allen Tätigkeiten Abstand nehmen, die das Ansehen des Arbeitgebers beschädigen könnten. Den Unternehmen wird hingegen das Recht eingeräumt, die Daten ihrer Lohnabhängigen auch an Dritte weiterzugeben, oder die Arbeitsbedingungen in ihren Betrieben ohne Rücksprache mit der Belegschaft zu verändern. Zudem sieht die Gesetzesreform die Streichung von Überstunden- und Schichtzulagen, wie auch ein Kürzung der Urlaubsansprüche vor. Der Kündigungsschutz für ältere Lohnabhängige, schwangere Frauen und Mütter im Erziehungsurlaub wird abgeschafft, während zugleich das Recht auf kündigungsbedingte Abfindungszahlungen ausgehöhlt wird.
Dieser massive Regierungsangriff auf die Lohnabhängigen in Ungarn wirkt immerhin gegen die traditionelle Zersplitterung der ungarischen Gewerkschaftsbewegung. Die Proteste am Wochenende wurden von dem Bündnis »Initiative von unten« organisiert, in dem sich erstmals rund 70 Branchen- und Betriebsgewerkschaften unter der Losung »Für Demokratie, soziale Sicherheit und Bewahrung der Menschen- und Arbeitnehmerrechte« zusammengefunden haben, die ansonsten oftmals in Konkurrenz zueinander stehen.