Die Germanisierung Europas

www.german-foreign-policy.com , 14.02.2011

Der von Deutschland und Frankreich forcierte „EU-Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ stößt europaweit auf massiven Widerstand. Das Projekt, das als Keimzelle einer künftigen EU-Wirtschaftsregierung bezeichnet wird, soll alle Euroländer auf die Einführung einer sogenannten Schuldenbremse, die Anhebung des Renteneintrittsalters und eine Senkung der Reallöhne verpflichten. Damit zwingt es im Namen einer Wirtschaftsregierung, wie sie seit je vor allem von Frankreich gefordert worden ist, sämtlichen Eurostaaten deutsche Wirtschaftskonzepte auf: Ziel ist es, die EU nach deutschem Modell zur globalen Exportmacht zu formen – auf Kosten der Bevölkerung Europas, die in immer prekärere Lebensverhältnisse gedrängt wird. Mittlerweile warnt sogar die deutsche Wirtschaftspresse, die Realisierung des Pakts könne vor allem im Süden der EU „zu gewalttätigen Auseinandersetzungen“ führen. Tatsächlich werden schon jetzt massive Proteste laut; südeuropäische Medien stufen das deutsch-französische Wirtschaftsdiktat in der EU als „Staatsstreich“ ein und warnen vor einer „Germanisierung Europas“.

Wirtschaftsdiktat

Die heftigen Auseinandersetzungen um den künftigen wirtschaftspolitischen Kurs der EU waren schon während des Brüssler Gipfeltreffens am 4. Februar eskaliert. Es sei ein regelrecht „surrealer Gipfel“ gewesen, auf dem Deutschland mit französischer Rückendeckung der Europäischen Union seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen zu oktroyieren versucht habe, berichtete der belgische Premierminister Yves Leterme: „Da waren 18, 19 Länder, die ihre Stimmen erhoben, um gegen den Inhalt und die Art zu protestieren, wie das Ganze präsentiert wurde.“[1] Ohne vorherige Konsultation hatten Berlin und Paris den Gipfelteilnehmern ein umfassendes Maßnahmenpaket vorgelegt, das eine Anpassung der jeweiligen nationalen Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik vorsieht und für alle Mitglieder der Eurozone verpflichtenden Charakter annehmen soll.

Deutsche Handschrift

Die Handschrift der deutschen Wirtschaftspolitik, die auf massive Lohnsenkungen, allgemeine Prekarisierung und aggressive Exportorientierung abzielt, ist bei den einzelnen Bestimmungen des „EU-Pakts für Wettbewerbsfähigkeit“ unverkennbar. Der „Pakt“, der als Keimzelle einer künftigen EU-Wirtschaftsregierung bezeichnet wird, sieht für sämtliche Euroländer die Einführung einer „Schuldenbremse“ nach deutschem Muster vor. Zudem soll das Renteneintrittsalter künftig an die demographische Entwicklung angepasst, also in den meisten EU-Ländern angehoben werden. Überdies sieht der Pakt die Abschaffung der an die Inflationsentwicklung gekoppelten Lohnerhöhungen vor, die in etlichen Euroländern üblich sind. Schließlich sollen auch die Körperschaftssteuersätze in der gesamten Eurozone vereinheitlicht werden. Für zusätzliche Empörung sorgte die Forderung aus Berlin und Paris, der Pakt solle außerhalb der europäischen Institutionen rasch verabschiedet werden – im Rahmen multilateraler Verträge.

Sozialer Kahlschlag

Gegen eine Streichung der Lohnerhöhungen um die Inflationsrate wie auch gegen die Anhebung des Renteneintrittsalters protestierten besonders der belgische Regierungschef Yves Leterme und der Ministerpräsident Luxemburgs und Vorsitzende der Euro-Guppe, Jean-Claude Juncker. Diese Vorschläge liefen auf „sozialen Kahlschlag“ hinaus, beschwerten sich Gipfelteilnehmer.[2] Selbst Österreich, das ansonsten als zuverlässiger Verbündeter Berlins gilt, übte an dem Pakt Kritik. Die Angleichung der Steuersätze und die „Schuldenbremse“ kritisierte unter anderem der italienische Außenminister Franco Frattini öffentlich. Frattini, der Italien im innereuropäischen Machtkampf zurückgesetzt sieht, forderte, in die Diskussion um die künftige Wirtschafts- und Finanzpolitik müssten sämtliche EU-Länder einbezogen werden; es dürfe „keine Gruppe die anderen Staaten anführen“. Beim Thema Steuerpolitik sollen sich Berichten zufolge der irische Premierminister Brian Cowen und der französische Präsident Sarkozy einen scharfen verbalen Schlagabtausch geliefert haben.[3]

Kern und Peripherie

Für Empörung sorgte der Vorstoß Deutschlands und Frankreichs auch bei den östlichen EU-Staaten, die befürchten, die Aufteilung der EU in ein Kerneuropa und eine östliche Peripherie werde zementiert. „Warum müssen Sie eine Spaltung demonstrieren?“, beschwerte sich Polens Ministerpräsident Donald Tusk: „Steht der Rest von uns Ihnen im Weg?“ Warschau habe „grundlegende Zweifel an der Methode“, mittels derer eine „Wirtschaftsregierung innerhalb der Eurozone“ realisiert werden solle. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán bezeichnete den deutsch-französischen Vorstoß gar als einen „unfreundlichen Akt“. Auch die slowakische Ministerpräsidentin Iveta Radičová erteilte den Berliner Plänen eine Absage: „Wenn es den Vorschlag gibt, in allen EU-Staaten ein einheitliches Rentenalter einzuführen, dann muss ich leider Nein sagen.“[4]

Ganz im Stile Deutschlands

Noch deutlicher wurde das deutsche Vorpreschen in den Kommentarspalten vieler europäischer Zeitungen kritisiert. Die italienische Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore etwa warnte unverblümt vor einem „Kodex zur schrittweisen Germanisierung Europas“. So werde in dem deutsch-französischen Pakt zwar „kein Wort“ über die von zahlreichen Eurostaaten verlangte Korrektur der deutschen Leistungsbilanz-Überschüsse verloren, die vor allem die südlichen EU-Staaten in die Verschuldung treiben.[5] Dafür sehe das Papier zum Beispiel eine „Anhebung des Rentenalters“ und einen „Stopp der Lohnangleichung“ nach deutschem Modell vor und bedrohe diejenigen Staaten, die sich diesen Schritten verweigerten, mit Strafen. Die bevorstehende „europäische Wirtschaftsregierung“ werde „ganz und gar im Stile Deutschlands“ vollzogen.[6]

Staatsstreich

Die griechische Tageszeitung To Ethnos empörte sich ebenfalls über das putschartige Vorgehen Berlins. „Europas Arbeitnehmer werden immer ärmer werden!“, warnte das linksliberale Blatt: „Die Art und Weise, wie Entscheidungen in der Eurozone und der EU zurzeit vorangetrieben werden, gleicht inzwischen einem Staatsstreich.“ „Absolut inakzeptabel“ sei „die Methode des Aufzwingens dieser Maßnahmen“, zumal diese „das Leben aller europäischen Bürger radikal verändern werden“.[7]

Allzu deutsch

Selbst in den polnischen Medien, die im Gefolge der unter Donald Tusk eingeleiteten Annäherung an Berlin auf deutschlandkritische Töne zumeist verzichten, häufen sich inzwischen die Warnungen vor einer – so die Wochenzeitung Tygodnik Powszechny – „allzu deutschen Union“.[8] Die deutschlandfreundliche liberale Tageszeitung Gazeta Wyborcza prophezeite eine „Teilung Europas“, die durch den „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ forciert werde. Die Tageszeitung Gazeta Prawna ließ berechnen, dass die Teilnahme Polens am „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ zum Verlust von rund 160.000 Arbeitsplätzen führen würde. Dessen ungeachtet drangen Merkel und Sarkozy bei ihrem trilateralen Gipfeltreffen mit dem polnischen Staatspräsidenten BronisÅ‚aw Komorowski („Weimarer Dreieck“) auf einen baldigen Beitritt Polens zur Eurozone wie auch zum „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“.

Die Krise als Druckmittel

Das wichtigste Druckmittel, das Deutschland im Machtkampf um die „Germanisierung der EU“ zur Verfügung steht, resultiert jedoch aus der europäischen Schuldenkrise. Berlin hat bereits klargestellt, es werde einer Ausweitung des Euro-Rettungsschirms, durch den hochverschuldete Euroländer vor der Staatspleite bewahrt werden sollen, nur bei einer Verabschiedung des „Pakts für Wettbewerbsfähigkeit“ zuzustimmen. Dabei setzt die Bundesregierung die EU-Staaten stark unter Zeitdruck: Bereits beim EU-Gipfel am 24. und 25. März soll ein Krisengesamtpaket verabschiedet werden, das auch den scharf kritisierten Pakt umfasst.[9] Die Umrisse der deutschen Pläne für die europäische Wirtschaft zeichnen sich damit deutlich ab: Berlin will nach seinem Ebenbild eine Europäische Union formen, die im Weltmaßstab eine ähnlich aggressive, exportorientierte Wirtschaftspolitik betreibt. Realisiert werden soll eine solche EU auf Kosten der Lohnabhängigen, die weiter in die Verarmung getrieben werden. Sollte diese ökonomische Germanisierung der EU scheitern, scheint Berlin auch einen Zusammenbruch der krisengeschüttelten Eurozone in Kauf nehmen zu wollen, die ihre Funktion als wichtigster Absatzmarkt der deutschen Exportindustrie ohnehin aufgrund der Krisendynamik [10] sukzessive einbüßt.

[1] European Leaders Clash at Summit; Wall Street Journal 05.02.2011
[2] Merkels Europa-Pläne ernten heftige Kritik; www.spiegel.de 05.02.2011
[3] Ireland’s corporate tax regime comes under EU pressure; Irish Times 05.02.2011
[4] Slowakische Ministerpräsidentin übt Kritik an geplantem Pakt für EU-Wettbewerbsfähigkeit; www.ad-hoc-news.de 09.02.2011
[5] s. dazu Die deutsche Transferunion und Ein unmoralisches Angebot
[6] Il Sole 24 Ore 04.02.2011
[7] To Ethnos 03.02.2011
[8] Czy Unia będzie zbyt niemiecka? Tygodnik Powszechny 08.02.2011
[9] Pakt für Wettbewerbsfähigkeit – Berlin rudert zurück; www.euractiv.de 09.02.2011
[10] s. dazu Die deutsche Transferunion

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