Frage der Ausdauer

„Junge Welt“, 27.02.2010
US-Präsident Obama kommt auch mit entschärfter Gesundheitsreform nicht voran. Jetzt wird sogar eine kräftezehrende »Schlichtung« erwogen

Es war ein »Gesundheitsgipfel« der Superlative, den Demokraten und Republikaner am Donnerstag (Ortszeit) in Washington vor laufenden Kameras aufführten. Über siebeneinhalb Stunden debattierten Spitzenpolitiker von Regierungspartei und Opposition über die vom Weißen Haus auf den Weg gebrachte Reform des US-Gesundheitswesens. Das von allen wichtigen TV-Sendern ausschnittsweise übertragene Fernsehduell stieß bei der Bevölkerung auf reges Interesse. Gilt doch das größtenteils privatisierte US-Gesundheitssystem als das marodeste und verschwenderischste aller Industriestaaten. An die 47 Millionen Bürger verfügen dort über keinerlei Versicherungsschutz gegen Krankheit. Die Demokratische Partei des Präsidenten Barack Obama ist bei dem Vorhaben inzwischen noch stärker als zuvor auf die Unterstützung der oppositionellen Republikaner angewiesen. Obamas Partei hatte die notwendige Mehrheit von 60 Sitzen im US-Senat bei einer Nachwahl in Massachusetts im Januar verloren.

Auch diesmal verhallten die inzwischen obligatorischen Aufrufe des Präsidenten nach einem »überparteilichen« Konsens ungehört. Republikanische Politiker forderten hingegen die Regierung auf, das gesamte Gesetzespaket einzustampfen und einen erneuten Anlauf zu machen: »Fangt wieder mit einem weißen Blatt Papier an und geht dann Schritt für Schritt vor, um zu sehen, wo wir zustimmen können«, forderte deren Vertreter Mitch McConnell. Die Gesundheitsreform sei wie ein »schlechtkonstruiertes Auto«, das auch nicht besser würde, wenn man es in die Werkstatt gebe. Letztendlich verkam die Veranstaltung zu dem propagandistischen Schlagabtausch zwischen beiden Parteien, vor dem Obama im Vorfeld gewarnt hat: »Ich hoffe, das wird hier nicht zum politischen Theater.«

Das Ausmaß an ideologischer Verblendung, das die Republikaner in ihrer Blockadehaltung verharren läßt, illustrierte beispielsweise der republikanische Abgeordnete Paul Ryan. Der behauptet weiterhin, daß die geplante Reform das Gesundheitswesen unter Staatskontrolle stellen werde: »Wir denken nicht, daß die Regierung die Kontrolle haben sollte. Wir wollen, daß die Menschen diese Kontrolle selber haben.« Neben der bewußten Verwechslung von Menschen mit den das US-Gesundheitssystem dominierenden Versicherungskonzernen, die Ryan vollbrachte, ignoriert der Republikaner auch die Tatsache, daß der nun zur Abstimmung stehende Gesetzesentwurf längst an die Interessen der Gesundheitsindustrie angepaßt wurde.

So wurde die ursprünglich angekündigte öffentliche allgemeine Krankenversicherung längst aus dem Reformvorhaben gestrichen. Sie soll allenfalls als freiwillige Option in Konkurrenz zu den privaten Krankenversicherern treten. Nun ist vorgesehen, vielen verarmten US-Bürger staatliche Zuschüsse zu geben, um Mitglied einer der ineffizienten privaten Krankenversicherungen werden zu können. Dies läuft de facto auf eine staatliche Subventionierung der Gesundheitsindustrie hinaus. Gegenüber dem Fernsehsender MSNBC betonte der unabhängige Senator Bernie Sanders (Vermont) am Donnerstag, daß Präsident Obama einen schweren Fehler begangen habe, indem er die Option einer staatlich finanzierten Krankenversicherung gestrichen habe: »Ich denke, daß die Menschen aus guten Gründen privaten Versicherungsunternehmen mißtrauen. Sie wollen eine öffentliche Option.« Jüngste in einigen US-Bundesstaaten durchgeführte Umfragen belegten, daß der gegenwärtige Reformentwurf unpopulär sei, während sich der Aufbau einer öffentlich finanzierten Krankenversicherung prinzipiell einer »extremen Popularität« erfreue, meldete beispielsweise die linksliberale Huffington Post.

Angesichts explodierender Kosten bei der Krankenbetreuung, die allein »in Kalifornien um 39 Prozent gestiegen« seien, könne eine öffentliche Krankenversicherung dazu beitragen, die privaten Versicherer zu »Ehrlichkeit« und »Verantwortung« zu nötigen, bemerkte Sanders: »Wir sollten vorwärtsschreiten und wir könnten die 50 Stimmen bekommen, die wir bei einem Schlichtungsverfahren brauchen.«

Tatsächlich scheint auch die Administration den parlamentarischen Weg eines Schlichtungsverfahrens ernsthaft erwägen zu wollen, um zumindest Teile ihrer Reform vor den Wahlen zum Kongreß im November durchsetzten zu können. Theoretisch werden bei einer Schlichtung (reconciliation) nur noch Budgetfragen bereits beschlossener Gesetze mit der einfachen Mehrheit von 51 Senatsstimmen beschlossen. Diesen verfassungsrechtlich umstrittenen Weg wählte beispielsweise die Bush-Administration 2001, um umfassende Steuersenkungen für Wohlhabende und Konzerne durchzusetzen. Der Senatsentwurf der Gesundheitsreform würde demnach von den Demokraten mit modifizierter Finanzierungsgrundlage erneut im Senat eingebracht, um dann in einer parlamentarischen Abnutzungsschlacht durchgepeitscht zu werden. Im Rahmen einer Schlichtung können die Republikaner den Gesetzentwurf zwar immer noch blockieren, indem sie »eine unendliche Anzahl von Änderungsanträgen einbringen«, bemerkte die Washington Post, doch müsse dies »ohne Pause oder Debatte« geschehen. Bei einer solchen Marathonabstimmung würde schlicht der körperliche Durchhaltewille der beteiligten Senatoren ausschlaggebend sein. Die Beteiligten kommen zu einem Ende, »nicht weil die Prozedur endet, sondern weil die Leute schließlich erschöpft sind. Sie hören damit auf, weil sie dort nicht mehr sitzen können« erläuterte der demokratische Kongreßberater James Horney gegenüber dem US-Hauptstadtblatt das Prozedere. Die sei »eine Frage der Ausdauer«.

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