„Junge Welt“, 30.12.2009
Gesundheitsreförmchen: Einstiges Prestigeprojekt des US-Präsidenten nimmt wichtige Âparlamentarische Hürden. Aber keine allgemeine Krankenversicherung erreicht
In den USA nahm eines der Prestigeprojekte von Präsident Barack Obama am 21. Dezember eine entscheidende parlamentarische Hürde – die Gesundheitsreform. 58 Senatoren der Demokratischen Partei und zwei unabhängige stimmten für die in der zweiten Kammer des US-Kongresses ausgehandelte Gesetzesvorlage. Obwohl die Republikaner geschlossen dagegen votierten, konnte der demokratische Mehrheitsführer Harry Reid die notwendigen 60 der insgesamt 100 Stimmen zusammenbringen. Mit dieser Dreifünftelmehrheit konnte die Partei des Präsidenten der Opposition im Senat die Möglichkeit nehmen, mit einer Dauerdebatte (dem sogenannten Filibustern) dieses wichtigste innenpolitische Reformvorhaben der Administration zu blockieren. Bis Heiligabend stimmte der Senat in mehreren Runden über weitere, bereits ausgehandelte Ergänzungen zu dem Gesetz, zu deren Verabschiedung die einfache Mehrheit ausreichte.
Diese Voten galten als wichtigste Hürde für das Vorhaben. Folglich sprach Präsident Obama danach von einem entscheidenden historischen Durchbruch: »Nach fast hundertjährigem Kampf stehen wir kurz davor, daß die Gesundheitsreform Realität wird.« Seine Regierung erfülle somit ihr Versprechen, eine »echte, spürbare Verbesserung der Krankenversicherung zu beschließen«. In den kommenden Wochen müssen die in beiden Kammern des Kongresses verabschiedeten Gesetzestexte noch in Übereinstimmung gebracht und erneut zur Abstimmung gestellt werden.
Viele US-Bürger wollen in Obamas Lobgesang allerdings nicht einfallen. Zu den prominentesten Gegnern des nun ausgehandelten Kompromisses gehört der einflußreiche demokratische Abgeordnete Howard Dean. In der Washington Post erklärte er, daß die vom Senat beschlossene Gesundheitsreform »mehr Schaden als Wohlergehen für Amerikas Zukunft« bringen werde und folglich abgelehnt werden müsse: »Jegliche Maßnahme, die das Monopol der privaten Gesundheitsversicherer über das Gesundheitssystem ausweitet und Millionen von Steuerzahlerdollar zu den Konzernen transferiert«, sei keine echte Gesundheitsreform, erklärte der ehemalige Gouverneur von Vermont. Auch die progressiven Senatoren Sherrod Brown und Russ Feingold (beide Demokraten) äußerten sich »sehr enttäuscht« angesichts der immer stärkeren Verwässerung des Vorhabens durch konservativer Demokraten und die Lobby der Gesundheitsindustrie.
Im Senatsentwurf findet sich die ursprünglich geplante zentrale Säule nicht mehr – eine staatliche Krankenversicherung, die als »Public Option« neben den überteuerten und unzulänglichen privaten Versicherungsangeboten eingeführt werden sollte. Sie wurde von den Interessenverbänden der Gesundheitsindustrie erfolgreich torpediert. Empörung in liberalen Kreisen löste auch das von Konservativen durchgesetzte Verbot einer Kostenübernahme bei Abtreibungen aus. Überdies ließen sich zahlreiche Senatoren ihre Zustimmung zu dem Gesetz durch millionenschwere Zuwendungen an ihre Bundesstaaten bezahlen. Die demokratische Senatorin Mary Landrieu aus New Orleans votierte beispielsweise erst für das Reformpaket, nachdem Louisiana 300 Millionen US-Dollar für die Armen-Krankenversicherung Medicaid von Washington zugesagt worden waren. Ähnliche Zahlungen in Höhe von 500 Millionen US-Dollar konnte auch der linke unabhängige Senator Bernie Sanders für Vermont durchsetzen.
Statt einer staatlichen Krankenversicherung sieht das Gesetzespaket eine Zwangsversicherung bei privaten Krankenkassen für alle Bürger vor. Bis zu acht Prozent des Jahreseinkommens werden diese künftig für einen privaten Versicherungsschutz ausgeben müssen. Sollten sie dies nicht tun, werden Strafzahlungen fällig. Da die meisten US-Bürger über die Unternehmen krankenversichert sind, in denen sie arbeiten, sollen kleineren Firmen, die dies bislang nicht finanzieren konnten, Steuerzuschüsse gewährt werden. Ähnliche Beihilfen sind auch für Selbständige und die »arbeitenden Armen« Amerikas geplant. Desweiteren gelang es der Pharmaindustrie, jegliche effektive Maßnahmen zur Senkung der überhöhten Medikamentenpreise zu verhindern. US-Bürger zahlen für ihre Arzneimittel beispielsweise an die 55 Prozent mehr als Kanadier. Immerhin soll es privaten Krankenversicherungen künftig verboten werden, Menschen aufgrund von Vorerkrankungen abzulehnen.
Nach Durchsetzung der Reform – deren Kosten auf 871 Milliarden Dollar in der kommenden Dekade veranschlagt werden – sollen dann 94 bis 96 Prozent der US-Bürger über eine Krankenversicherung verfügen, wie jüngste offizielle Schätzungen prognostizieren. Zur Gegenfinanzierung werden unter anderem Einsparungen bei dem staatlichen Gesundheitsprogramm für Rentner (Medicare) in Aussicht gestellt, es sollen auch Steuererhöhungen für Wohlhabende durchgesetzt werden. Das US-Gesundheitssystem gilt als das teuerste der Welt. Die Kosten pro Kopf der Bevölkerung belaufen sich hierbei auf 7290 US-Dollar im Jahr – in der BRD sind es umgerechnet lediglich 3588 US-Dollar.
Kritische Beobachter gehen davon aus, daß das vorliegende Gesetz die ursprünglichen Ziele nicht erreichen wird. So sollte es beispielsweise die Diskriminierung aufgrund von Vorerkrankungen abschaffen. Nun gebe es Bestimmungen, wonach die Assekuranzen ältere Menschen mit bis zu 300 Prozent höheren Beiträgen zur Kasse bitten dürfen, empörte sich Howard Dean. Weiterhin müßten die Bürger ihr Geld privaten Krankenversicherungen in den Rachen werfen. »Wieder einmal hat Washington entschieden, daß man den Amerikanern nicht trauen darf und daß sie nicht selbst wählen dürfen«, so Dean resigniert. Der progressive Journalist Matt Taibbi nannte das zurechtgestutzte Gesetzespaket sogar eine »enorme Wohltat« für die Gesundheitsindustrie, die neben massiven Subventionen nun auch noch mit einer Ausweitung ihrer »Kundenbasis« um die 25 bis 30 Millionen US-Bürger rechnen kann.