Erschien gekürzt in der „Jungen Welt“ vom 22.09.2009
Polen: Gespaltene Reaktionen auf Obamas Verzicht, Raketen zu stationieren
Der angekündigte Verzicht von US-Präsident Barack Obama auf die Errichtung einer Raketenabwehr in Osteuropa erschüttert immer noch das politische System Polens. Clevere Geschäftemacher scheinen aus diesem Fiasko für die polnische Außenpolitik noch Kapital schlagen zu wollen. So befaßte sich am Montag die Springerzeitung Dziennik unter der Überschrift »Wir bauen uns unseren eigenen Schutzschild« gründlich mit einem Vorschlag des Vorstandsvorsitzenden der polnischen Rüstungsfirma Bumar, Edward E. Nowak. Sein Konzern könne ein Luftabwehrsystem errichten, das ganz Polen mit »kleineren und größeren Schutzregenschirmen« abdecken würde, warb Nowak. Das dreistufige Abwehrsystem hätte einer Reichweite von über 200 Kilometer und würde 15 Milliarden Zloty (etwa 3,6 Milliarden Euro) kosten.
Derweil meldete die Tageszeitung Rzeczpospolita bereits, daß der geschäftstüchtige Nowak dem polnischen Verteidigungsminister Bogdan Klich ein entsprechendes Angebot unterbreitet habe. Ob die derzeitige Koalition in Warschau darauf eingeht, bleibt fraglich. Schließlich stand die Regierungsmannschaft um den rechtsliberalen polnischen Regierungschef Donald Tusk bereits dem von US-Präsident George W. Bush forcierten Aufbau einer Raketenbasis in Polen und eines entsprechenden Radarsystems in Tschechien skeptisch gegenüber.
Erst der Krieg in Südossetien im August vergangenen Jahres verleitete Tusk dazu, übereilt den entsprechenden Stationierungsvertrag mit der scheidenden Bush-Administration abzuschließen. Das Wehklagen hält sich folglich innerhalb der polnischen Regierung, die um eine Normalisierung der angespannten Beziehungen zu Rußland bemüht ist, in Grenzen. Die Kehrtwende Washingtons sei nun mal eine »autonome Entscheidung der US-Regierung«, betonte Tusk, die ohnehin »Polens Sicherheit vergrößern und nicht verringern« würde. Ferner erklärte Polens Premierminister, daß die USA nun Warschau die Intensivierung der »polnisch-amerikanischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verteidigung« angeboten haben.
Auch Polens Außenminister Radoslaw Sikorski betonte, daß es nun wichtig sei, die Installation des US-Patriot-Luftabwehrsystems in Polen so schnell wie möglich voranzutreiben. Tatsächlich scheint Warschau eine voll einsatzbereite Batterie dieses hochmodernen Militärobjekts als Trostpflaster von den USA angeboten zu werden. In einem Interview mit der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza erklärte der einflußreiche polnischstämmige US-Geopolitiker Zbigniew Brzezinski, daß Warschau zufrieden sein sollte, wenn »Amerika zur Verteidigung Polens eine Patriot-Batterie« liefern sollte.
Trotzdem präsentiert sich die polnische Rechte, die massiv den Aufbau der Raketenabwehr forciert hatte, weiter beunruhigt. Abgeordnete der konservativen Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) bezeichneten die Entscheidung Obamas als »Stoß in den Rücken« und »Verrat«. Der Vorsitzende der PiS, Jaroslaw Kaczynski, beschuldigte den polnischen Regierungschef, »alles getan zu haben«, um den Aufbau der Raketenabwehr zu verhindern.
Die Bevölkerung reagierte hingegen überwiegend mit Erleichterung auf die Kehrtwende Washingtons. In einer Blitzumfrage erklärten 48 Prozent der Befragten, daß sie Obamas Entscheidung begrüßen, nur 31 Prozent gaben an, dies zu bedauern. Mit Erleichterung wurde auch der am Freitag erklärte Verzicht Rußlands auf die Stationierung von Mittelstreckenraketen in der Region Kaliningrad nahe der polnischen Grenze zur Kenntnis genommen, die ursprünglich als Gegenmaßnahme zum Aufbau der Raketenabwehr geplant war.
Trotz anders lautender Beteuerungen der amerikanischen Außenministerin Hillary Clinton, die keinerlei Zusammenhänge zwischen dem Verzicht auf die Raketenabwehr und der amerikanischen Russlandpolitik sehen wollte, werden in polnischen Medien die geopolitischen Implikationen dieser Entscheidung Obamas diskutiert. Die Gazeta Wyborcza sieht hierin eine ‚Geschenk an Russland‘, dass die Kooperationsbereitschaft des Kreml sichern soll. Washington sei daran interessiert, Russlands Unterstützung bei den Auseinandersetzungen rund um das iranische Atomprogramm zu gewinnen, so der Tenor vieler Kommentare.