„Junge Welt“, 29.07.2009
Nach dem Boom: Kaum noch Rente, Hungergehälter für Staatsdiener, hohe Schuldenlast: Lettland zerfetzt soziales Netz für Kredite gegen Staatsbankrott
Lettland erhält frisches Geld. Die vom Staatsbankrott bedrohte baltische Republik durfte sich am vergangenen Montag über 1,2 Milliarden Euro Finanzhilfe freuen. Allerdings dürfte sich die Feierlaune der Letten in Grenzen halten, denn erstens sind diese Gelder nur geborgt, und zweitens gab die Europäische Kommission die Kredittranche nur unter der Bedingung frei, daß die Regierung in Riga die Staatsausgaben weiter kürzt. Der ersten Teilbetrag des Darlehens in Höhe von einer Milliarde Euro war bereits im Februar ausgezahlt worden. Insgesamt hatten EU und Internationaler Währungsfonds (IWF) Lettland im Dezember 2008 Hilfskredite im Volumen von 7,5 Milliarden Euro zugesagt. Während die Gelder aus Brüssel bereits flossen, gelang es der Regierung in Riga erst nach weiteren haushaltspolitischen Zugeständnissen, auch den IWF zu bewegen, seinen zugesagten Teilkredit von 200 Millionen Euro freizugeben. Der Währungsfonds fordert noch weitaus stärkere Ausgabenkürzungen vom 2,3-Millionen-Einwohner-Staat an der Ostsee, als die ohnehin restriktiven EU-Vorgaben.
Sozialer Kahlschlag
Das Haushaltsdefizit Lettlands wird in diesem Jahr zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen. Während die EU-Kommission darauf bestand, das Defizit bis 2012 auf weniger als drei Prozent des BIP zu senken, versteifte sich der IWF darauf, die Verschuldung schon im kommenden Jahr auf 8,5 Prozent des BIP zu drücken. Ohne zusätzlicher Steuererhöhungen und Sozialkürzungen ist dies nicht realisierbar. Dabei hat die lettische Regierung bereits einen sozialen Kahlschlag ohnegleichen praktiziert, um überhaupt die an das »Hilfspaket« aus Brüssel geknüpften Vorgaben realisieren zu können.
Um die staatliche Neuverschuldung tatsächlich unter die im sogenannten Euro-Stabilitätspakt festgeschriebene Grenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis 2012 zu drücken, wurden zu Beginn dieses Jahres die Gehälter im öffentlichen Dienst um 20 Prozent gekürzt. Eine zweite Kürzungsrunde fand am 1. April statt, weitere Lohnabschläge für die Staatsangestellten stehen am 1. September an. Hiernach sollen sich beispielsweise die Lehrergehälter nur noch auf dem Niveau des offiziellen Existenzminimums bewegen. Vorsorglich ließ die Regierung eben dieses Existenzminimum am 1. Juli auf nur noch 140 Lat (ein Lat sind ca. 0,7 Euro) senken.
Auch die Rentner mußten sich mit zehnprozentigen Kürzungen abfinden. Alle Ruheständler, die mehr als 100 Lat monatlich erhielten, bekamen ihre Bezüge gleich um 20 Prozent gekürzt. Die Auszahlung von Kindergeld wurde in diesem Jahr gänzlich eingestellt. Zugleich wurde die Mehrwertsteuer in zwei Schritten von 18 Prozent auf 23 Prozent erhöht. Insgesamt peitschte Lettlands Regierung Kürzungen im Umfang von 500 Millionen Lat am 16. Juni durchs Parlament, um Brüssel zur Auszahlung des Kreditteilbetrages zu bewegen. Die Lage in dem jungen EU-Mitgliedstaat ist so dramatisch, daß inzwischen sogar steuerpolitisch »heilige Kühe« des Neoliberalismus zur Disposition stehen: Um die zusätzlichen Vorgaben des IWF zu erfüllen, ist die Regierung in Riga bereit, den linearen Steuersatz von 23 Prozent (die sogenannte Flat-Tax) durch eine progressives Steuersystem zu ersetzen und Abgaben auf Kapitaleinkünfte, Dividenden sowie Immobilienbesitz einzuführen.
Der rabiate Sozialabbau wird den Verelendungstendenzen in der Gesellschaft weiteren Vortrieb geben. Die amtliche Arbeitslosigkeit liegt derzeit bei etwa 18 Prozent. Für das kommende Jahr wird eine Quote von 22 Prozent prognostiziert. Ähnlich dramatische Werte werden übrigens für das kommende Jahr in Estland (18) und Litauen (19 Prozent) erwartet. Von Altersarmut war schon vor den jüngsten Rentenkürzungen etwa ein Drittel aller lettischen Pensionäre betroffen. »Alle um mich herum verlieren ihre Arbeit, unsere Löhne sinken«, sagte eine Hotelangestellte in Riga der polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza. Noch vor kurzem hätten die Menschen über die Krise diskutiert, doch nun sei ein gewisser Gewöhnungseffekt eingetreten: »Alle versuchen nur noch, zu überleben.«
Drückende Schuldenlast
Der Einbruch der kreditfinanzierten, jahrelang als Konjunkturlokomotive dienenden privaten Nachfrage fällt in dem hochverschuldeten Land nun besonders kraß aus: Die Umsätze des Einzelhandels sind im Jahresvergleich um 30 Prozent zurückgegangen, der Absatz von neuen Fahrzeugen ist sogar um 70 Prozent eingebrochen. Die größten Probleme seien erst im Winter zu erwarten, erklärte Morten Hansen von der Stockholm School of Economics in Riga gegenüber der Gazeta Wyborcza. Die zeitlich befristete Arbeitslosenunterstützung der derzeit massenhaft auf die Straße geworfenen Letten werde dann auslaufen, während die Kosten für Heizung und Instandhaltung der auf Kredit gekauften Immobilien weiter anziehen werden. Erst dann dürften die Banken das Ausmaß der faulen Kredite, die sie den Letten in den vergangenen Jahren aufgeschwatzt haben, voll erfassen, so Hansen.
Diejenigen, die (noch) Arbeit haben, mobilisieren ihre letzten Reserven, um einer privaten Insolvenz zu entgehen. Die New York Times (NYT) schilderte als Beispiel den Arbeitsalltag eines Assistenzarztes. Dieser habe inzwischen drei Jobs in drei verschiedenen Hospitälern übernommen, nur um die Hälfte seiner monatlichen Einkünfte von umgerechnet 1350 US-Dollar auf die Rückzahlung einer in Euro aufgenommenen Hypothek für sein Appartement zu verwenden. Oftmals ziehen auch Verwandte zusammen in eine einzige Wohnung, um die so frei werdenden Immobilien entweder zu vermieten oder zu verkaufen.
Verheerend wirkt sich der mit 85 Prozent seht hohe Anteil an Hypotheken, die Lettlands Häuslebauer in Euro aufnahmen, auf die Volkswirtschaft aus. Während des Booms hoffte man in Riga, bald in die Eurozone aufgenommen zu werden – doch dieses Vorhaben ist vorerst in weite Ferne gerückt. Eine Abwertung des Lat, der derzeit fest an den Euro gekoppelt ist, würde die Ausfallraten aufgenommener Kredite und Hypotheken explodieren lassen. Zu verhindern ist dieses Katastrophenszenario laut dem ehemaligen IWF-Chefökonom Kenneth Rogoff, nicht mehr: Es sei klar, daß die Bindung des Lat an den Euro letztlich nicht zu halten sei, so Rogoff gegenüber den NYT: »Aber selbst letztlich unhaltbare Bindungen können für ein oder zwei Jahre aufrechterhalten werden, bevor sie zusammenbrechen und verbrennen. Und Brüssel scheint gewillt, sehr viel zu bezahlen, um die Nabelschnur Lettlands erst nach der Finanzkrise durchschneiden zu müssen.«