„Junge Welt“, 11.06.2009
Putin weist an: Geschlossenen Betrieb wieder öffnen, Löhne nachzahlen
Es war wahrlich kein angenehmer Pflichttermin, den Oleg Deripaska am vergangenen Donnerstag in der kleinen russischen Industriestadt Pikaljowo bei Sankt Petersburg wahrnehmen mußte. Schweigsam blickte der einstmals reichste Mann Rußlands zu Boden, während der russische Regierungschef Wladimir Putin in einer von allen russischen Fernsehsendern übertragenen Standpauke dem berühmten Oligarchen die Leviten las. Deripaska habe gemeinsam mit seinen beiden Geschäftspartnern Tausende von Einwohnern Pikaljowos zu »Geiseln« seiner Ambitionen, seiner Unprofessionalität und Gier gemacht, polterte Putin: »Das ist absolut inakzeptabel.«
Der als kremlnah geltende Oligarch, der über ein weit verzweigtes Industrieimperium gebietet, hatte die wichtigste Fabrik dieser 22000 Einwohner zählenden Kleinstadt schließen lassen und damit über 1000 Menschen arbeitslos gemacht. Überdies hatten seine Beschäftigten schon zuvor monatelang keinen Lohn mehr erhalten. Die Erwerbslosigkeit in der von diesem Unternehmen abhängigen Stadt explodierte förmlich. Die verzweifelten Menschen gingen dazu über, mit Demonstrationen und Straßenbahnblockaden die Auszahlung der Löhne sowie die Verstaatlichung ihrer Betriebe zu fordern.
Diese eskalierenden Proteste ließen die Alarmglocken im Kreml läuten. Von einem Arbeitsbesuch in Finnland kommend, mußte Putin kurzfristig seine Terminplanung ändern und in Pikaljowo intervenieren. Der Regierungschef ordnete während seiner Fernsehansprache in dem – zwischenzeitlich – stillgelegten Betrieb des Oligarchen an, die ausstehenden Löhne in Höhe von umgerechnet 1,5 Millionen US-Dollar unverzüglich auszuzahlen: »Alle Lohnschulden in Höhe von 41240000 Rubeln müssen beglichen werden. Die Frist – heute!« Schließlich ließ Putin den sichtlich verstörten Deripaska an seinen Tisch kommen und ein Dokument unterschreiben, in dem dieser sich verpflichtet, die Produktion in dem Tonerdewerk ab Monatsende erneut in Gang zu setzen. »Man darf keine fremden Dinge mitnehmen«, fuhr Putin den kopflosen Oligarchen vor laufender Fernsehkamera an, nachdem dieser nach der Unterzeichnung des Dokuments vergaß, ihm seinen Kugelschreiber wiederzugeben.
Dabei kann sich der hochverschuldete »Aluminiumkönig« Deripaska eigentlich der Unterstützung des Kreml erfreuen: Der russische Staat stützte beispielsweise dessen angeschlagenen Fahrzeughersteller GAS mit millionenschweren Hilfszahlungen. Putin stand auch Pate bei der Formierung des gigantischen Aluminiumkonzerns Rusal, der das Herzstück in Deripaskas Industrieimperium bildet. Die meisten politischen Beobachter sind sich folglich darin einig, daß diese geschickte Inszenierung ein Signal des Kreml an die gesamte Oligarchenkaste Rußlands war, während der Krise übermäßigen sozialen Verwerfungen – und somit auch sozialen Unruhen – vorzubeugen.
Ob dies gelingt, ist allerdings fraglich. Es gibt in der Russischen Föderation an die 400 Städte, die während der stürmischen sowjetischen Industrialisierung um einzelne, oftmals gigantische Betriebe herum erbaut wurden und von diesen total abhängig sind. Als »Monogorod« werden diese einseitig auf einen Großbetrieb ausgerichteten Ortschaften im Russischen bezeichnet. Die Regierung in Moskau wird aller Voraussicht nach nicht in der Lage sein, all diese Betriebe zu retten. Die Nachrichtenagentur RIA-Nowosti meldete bereits ähnliche Probleme aus dem am Baikalsee gelegenen Baikalsk, wo das Zellstoffkombinat stillgelegt wurde. Im südrussischen Krasnodar hätten die Beschäftigten des dortigen Wohnungsbaukombinats seit Februar keinen Lohn mehr erhalten. Es gebe Proteste in Kyschtym, Iwanowo und Syktywkar. Das Geschehen in Pikaljowo sei »nur eine einzelne Episode in der komplizierten Situation«.