„Junge Welt“, 30.05.2009
Neuer Treibstoff für »Defizitkonjunktur«: Ausufernde Staatsverschuldung ersetzt private Kreditvergabe der vergangenen Jahre
Der aktuelle Krisenverlauf bietet inzwischen auch Raum für tragikomische Momente. Befragt nach der Höhe der Neuverschuldung des Bundes in diesem Jahr, gab Finanzminister Peer Steinbrück gegenüber der ARD zu verstehen, daß er das so genau nicht wisse. Diese sei derzeit »nicht zu beziffern«, man werde »danach abrechnen«, meinte der Finanzminister anläßlich der Verabschiedung eines zweiten Nachtragsetats für dieses Jahr, der die diesjährige Kreditaufnahme auf inzwischen 47,6 Milliarden Euro hochschnellen läßt – 10,7 Milliarden Euro mehr als bislang veranschlagt. Dies dürfte bei weitem nicht das Ende der Fahnenstange sein. Die Financial Times Deutschland (FTD) geht von nahezu 80 Milliarden Euro für 2009 aus. Aufgrund des Wirtschaftseinbruchs wegbrechende Steuereinnahmen mitsamt den Mehrausgaben für die Sozialsysteme sowie die kreditfinanzierten Konjunkturprogramme machen diese Staatsverschuldung im Rekordtempo unumgänglich.
Zumindest dabei steht die BRD nicht allein da. Im gesamten Euroraum nötigen die mit der Weltwirtschaftskrise einhergehenden Einnahmeverluste und Mehrausgaben die Regierungen dazu, die immer größeren Haushaltslöcher mittels ausufernder Kredite zu stopfen. Die Länder der Eurozone wiesen 2007, am Vorabend der Krise, eine Staatsverschuldung von 66 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf. Laut Bundesfinanzministerium wird sie bis 2010 auf über 75 Prozent steigen. Für die gesamte, 27 Länder zählende EU belief sich die Verschuldungsrate 2007 auf 58 Prozent und die Prognose für 2010 auf knapp 71 Prozent des BIP.
Eine besonders hohe Staatsverschuldung wiesen bereits vor Krisenausbruch insbesondere Italien mit etwas mehr als 100 Prozent seiner jährlichen Wirtschaftsleistung wie auch Griechenland mit knapp 95 Prozent des BIP auf. Am explosivsten entwickelt sich inzwischen die Lage in Großbritannien. Neuesten Berechnungen der Ratingagentur Standard & Poor’s zufolge könnte sich die gesamte Staatsschuld des Landes, die derzeit bei rund 53 Prozent des BIP liegt, bis 2013 auf nahezu 100 Prozent verdoppeln.
Das Haushaltsdefizit des Vereinigten Königreiches stieg von 37 Milliarden Pfund 2008 auf 93,4 Milliarden Pfund in diesem Jahr und soll 2010 auf schwindelerregende 175 Milliarden Pfund anwachsen. Zum Großteil ist dies auf die Bankenrettungsprogramme zurückzuführen, die nach dem Zusammenbruch der in Großbritannien jahrelang herrschenden – und insbesondere durch ausufernde private Kreditaufnahme angetriebenen – Defizitkonjunktur notwendig wurden. Die exzessive private Verschuldung erreichte im Vereinigten Königreich stolze 170 Prozent des BIP. Diese kreditgenerierte Nachfrage stützte vermittels Konsumausgaben und Bautätigkeit die britische Konjunktur der letzten Jahre.
Ein ähnlicher Prozeß, bei dem die vormals durch private Verschuldung generierte Nachfrage durch staatliche Kreditaufnahme ersetzt wird, findet in den USA statt. Billige Hypothekendarlehen und Konsumentenkredite in den Vereinigten Staaten bildeten den Motor der stürmischen Weltkonjunktur, bei der die immer weiter sich verschuldende US-Bevölkerung die Überschussproduktion der Exportnationen – wie Japan, China, Deutschland – aufnahm. Eine solche auf privater Verschuldung basierende Defizitkonjunktur bildeten noch Irland, Spanien und ein Großteil Osteuropas aus.
Die Gesamtverschuldung der Vereinigten Staaten (Staat, private Haushalte, Unternehmen, Finanzsektor) stieg im vierten Quartal 2008 auf 52,59 Billionen US-Dollar – das sind stolze 370 Prozent des BIP. Der amerikanische Staat steht derzeit mit »nur« 11,3 Billionen Dollar in der Kreide, was etwa 80 Prozent des BIP entspricht. Doch angesichts der kostspieligen Konjunkturprogramme zur Krisenbewältigung steigt auch hier die Verschuldung rasant an und dürfte bald die Zwölf- Billionen-Dollar-Marke passieren. Etliche Schätzungen gehen davon aus, daß die Vereinigten Staaten in absehbarer Zeit ihre Verbindlichkeiten auf über 100 Prozent des BIP hochschrauben.
Auch beim Haushaltsdefizit sind die Dimensionen astronomisch: Das derzeit laufende Haushaltsjahr wird Washington mit einem Defizit von 1,7 Billionen US-Dollar abschließen, was nahezu zwölf Prozent des BIP wären. Wenn wir in die Zukunft der Staatsverschuldung schauen wollen, so brauchen wir nur einen Blick ins Land der aufgehenden Sonne zu werfen. Japan erlebte seine Spekulationsblase au den Aktienmärkten und dem Immobiliensektor bereits Ende der achtziger Jahre. In einer hierauf folgenden »verlorenen Dekade« baute sich ein enormer staatlicher Schuldenberg auf, da die Regierung massive Konjunkturprogramme zur Stützung der stagnierenden Wirtschaft und der Finanzmärkte auflegte.
Die Auswirkungen waren allerdings bescheiden. Die gesamten Neunziger hindurch wies Japan sehr niedrige Wachstumsraten und eine schleichende soziale Desintegration auf. Derzeit belaufen sich die Verbindlichkeiten des japanischen Staates auf nahezu 200 Prozent des BIP, wobei diese Schuldenquote bis 2010 aufgrund weiterer Konjunkturpakete (Umfang über 800 Milliarden Euro) auf 227 Prozent des BIP steigen könnte. Inzwischen reagierten die Ratingagenturen auf diese Entwicklung: So setzte Moody’s die Bonitätsnote Japans Mitte Mai gleich um zwei Stufen auf nunmehr Aa2 herab. Eine ähnliche Abwertung, die mit einer höheren Zinslast einhergeht, droht inzwischen auch Großbritannien und den USA. Global können wir somit von einer »Verstaatlichung« der vormaligen, durch private Kreditaufnahme angetriebenen Defizitkonjunktur sprechen: An die Stelle des Hypotheken- oder Kreditnehmers tritt der Staat, der durch schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme die nun wegbrechende private Nachfrage zu kompensieren versucht. Das spätkapitalistische Weltsystem scheint somit ohne permanente Schuldenaufnahme an seinen eigenen, aus der stürmischen Produktivkraftentwicklung resultierenden Widersprüchen auseinanderzubrechen.
Der Kapitalismus funktioniert nur noch auf Pump.