„Junge Welt“, 26.05.2009
Japans Wirtschaft bricht ein. Der hochverschuldeten Exportnation stehen nach Jahren der Stagnation dramatische soziale Konsequenzen ins Haus
Die Weltwirtschaftskrise fordert von der japanischen Bevölkerung ihren Tribut. Nach Angaben der Nationalen Polizeiagentur war der größte Teil der Selbstmorde im Jahr 2008 auf die sich rapide verschlechternde ökonomische Lage zurückzuführen. Von den amtlich gezählten 32249 Suiziden wurden 6490 in Abschiedsbriefen mit der Wirtschaftsdepression begründet, 3325 mit Überschuldung. Zudem sei zu vermuten, daß bei nicht begründeten Selbsttötungen ähnliche Ursachen vorgelegen hätten, so die Polizeiagentur.
Die immer noch zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt erlebt einen ökonomischen Einbruch, der in der Geschichte des Landes beispiellos ist. Es sei, als hätte Godzilla auf der Insel gewütet, die ihn erfunden hat, so ein Journalist. So sank das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im ersten Quartal 2009 gegenüber dem Vorquartal um vier Prozent. Im Vergleich zu den ersten drei Monaten des vorangegangenen Jahres brach die Wirtschaftsleistung gar um 15 Prozent ein.
Damit schaffte es Japan im Vergleichszeitraum sogar, noch stärker abzustürzen als »Exportweltmeister« Deutschland, dessen BIP auf Jahressicht um knapp sieben Prozent sank. Ähnlich wie in der BRD trugen die wegbrechenden Exporte maßgeblich zum Desaster bei. Die Ausfuhren gingen im ersten Quartal 2009 gegenüber dem Vorquartal um ganze 26 Prozent zurück. Dabei werden erst aus längerfristiger Perspektive die wahren Ausmaße des Zusammenbruchs der japanischen Exportindustrie deutlich. Deren monatliches Volumen lag im April 2009 noch bei 2,536 Billionen Yen (ca. 17,6 Milliarden Euro) – im März 2008 waren es stolze 7,681 Billionen Yen. Es ist ein Fall des Exportvolumens um nahezu 70 Prozent innerhalb von 13 Monaten.
Ähnlich verheerend entwickelte sich die Industrieproduktion, die im März 2009 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 34,2 Prozent einbrach. Der Warenausstoß der japanischen Wirtschaft geht somit auch im sechsten Monat in Folge zurück. Diese Entwicklung wird durch einen seit einem Jahr anhaltenden Rückgang der gewerblichen Investitionen verstärkt, die im ersten Quartal 2009 um 10,4 Prozent gegenüber dem VorjahresÂquartal sanken.
Dies alles bleib nicht ohne Wirkung auf den ohnehin schwächelnden Konsum. Die Verbraucherausgaben sanken in den ersten drei Monaten dieses Jahres gegenüber dem Vorquartal um 3,4 Prozent und gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 12,8 Prozent. Die kapitalistische Systemkrise trifft hier eine Bevölkerung, die während der langen Stagnationsperiode in den neunziger Jahren ohnehin einer schleichenden Erosion ihres Lebensstandards ausgesetzt war und eine tiefgreifende soziale Differenzierung erfuhr. Japan hatte »seine« SpekulaÂtionsblase auf den Aktienmärkten und dem Immobiliensektor bereits Ende der achtziger Jahre. Von dem danach folgenden Crash konnte sich das Land nie mehr richtig erholen. Während beispielsweise in den USA zur Hochzeit der dank spekulativer Blasenbildung und privater Verschuldung angeheizten Defizitkonjunktur zwei Drittel des BIP auf private Konsumausgaben entfielen, beläuft sich dieser Wert in Japan nur auf 55 Prozent.
Zwar liegt die amtliche Arbeitslosigkeit in Japan noch immer unter fünf Prozent, und die größeren japanischen Konzerne bleiben weiterhin der Tradition treu, keine festangestellten Mitarbeiter zu entlassen. Doch müssen diese saftige Einbußen und unbezahlten Zwangsurlaub in Kauf nehmen. Außerdem fand auch im Land der aufgehenden Sonne die übliche neoliberale Deregulierung des Arbeitsmarktes statt, so daß inzwischen ein Drittel der Japaner, die in den letzten zehn Jahren ins Arbeitsleben eintraten, nur in ungelernten, prekären und schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind. Im wachsenden Niedriglohnsektor sehen Beobachter auch ein Grund für die problematische demographische Entwicklung des Landes. Die meisten dieser Zeitarbeiter sind finanziell nicht in der Lage, eine Familie zu gründen. Diese Gruppe ist auch als erste von Massenentlassungen betroffen. Bereits vor der Krise wies Japan innerhalb der Industrieländer eine der höchsten Raten an »relativer Armut« auf. Laut einer OECD-Untersuchung von 2006 lag der Anteil der Menschen, die sich mit weniger als der Hälfte des Durchschnittslohns durchschlagen müssen bei 15 Prozent. Nur die USA wiesen laut der der in Paris ansässigen Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit einer Rate von 17 Prozent einen höheren Anteil relativer Armut auf.
Jüngsten Einschätzungen zufolge soll nun die Talsohle dieses Einbruchs erreicht sein. Der geldpolitische Rat der Bank von Japan erklärte beispielsweise, daß Exporte und Produktion inzwischen ihren freien Fall beendet hätten. Zudem hoffen Beobachter darauf, daß die umfassenden Konjunkturprogramme der Regierung, die sich auf umgerechnet mehr als 800 Milliarden Euro belaufen, ab Herbst zur Belebung der Konjunktur beitragen. Doch selbst dies bleibt fraglich – schließlich hat auch in den Neunzigern die japanische Politik milliardenschwere Konjunkturpakete zur Bekämpfung von StagnaÂtion und Deflation aufgelegt und damit nur bescheidenste Erfolge erzielt. Außerdem muß sich der hochverschuldete Staat derartige Konjunkturspritzen in Zukunft wohl verkneifen. Jüngst hat die Ratingagentur Moodys die Bonitätsnote Japans gleich um zwei Stufen auf Aa2 gesenkt, da die Außenstände der 127 Million Einwohner zählenden Nation bereits das Doppelte der jährlichen Wirtschaftsleistung überschritten haben. Schätzungen zufolge soll diese Verschuldung 2010 auf 227 Prozent des BIP steigen.