„Junge Welt“, 09.04.2009
Ungarn: Neoliberale Demontage durch Sozialisten wird verstärkt
Die Magyar Szocialista Párt (MSZP) gewöhnt sich bereits an ihre künftige politische Marginalisierung. Gerade mal drei sozialistische Minister will Gordon Bajnai, der designierte Ministerpräsident Ungarns, in seinem von der MSZP gestützten »Expertenkabinett« belassen. Am 14. April soll vom Parlament der bisherige parteilose Wirtschaftsminister in das Amt seines Vorgängers Ferenc Gyurcsány gewählt werden. Neben den Sozialdemokraten verpflichteten sich auch deren ehemalige neoliberale KoaliÂtionspartner aus der »Allianz der Freien Demokraten« (SZDSZ), die neue Regierung zu stützen. Während eines eiligst einberufenen Sonderparteitags am vergangenen Sonntag haben die Delegierten der MSZP Ildiko Lendvai zur neuen Parteichefin gekürt, nachdem Gyurcsánys am 21. März überraschend seinen Rücktritt als Premier erklärt hatte. Seine Person sei inzwischen ein »Hindernis« bei der Durchsetzung notwendiger »Reformen«, äußerte damals der scheidende Regierungschef.
Der 41jährige Bajnai erklärte umgehend, das neoliberale Werk seines Amtsvorgängers fortsetzen zu wollen. Der designierte Regierungschef versprach bei einer ersten Pressekonferenz »Blut, Schweiß und Tränen« im Überfluß für alle Ungarn. Die nun anstehenden, aufgrund der schweren Rezession leider unumgänglichen Reformen würden »allen Familien« in Ungarn wehtun, warnte Bajnai.
Ungarns Wirtschaft befindet sich tatsächlich im freien Fall: Die Industrieproduktion sank im Februar gegenüber dem Vorjahr um 25 Prozent, während die Arbeitslosigkeit mit 9,1 Prozent den höchsten Wert seit zwölf Jahren erreicht hat. Für 2009 gehen die jüngsten Schätzungen bereits von einem Rückgang des Bruttonationalprodukts (BNP) von fünf Prozent aus. Dennoch hält auch der designierte Premier an den Euro-Stabilitätskriterien fest, die unter anderem eine maximale Neuverschuldung von drei Prozent des BNP festschreiben. Um die mit der Rezession einhergehenden steuerlichen Mindereinnahmen zu kompensieren, sollen nun umfassende Kürzungen durchgesetzt werden. Gestrichen werden sollen unter anderem das 13. Monatseinkommen im öffentlichen Dienst, die 13. Monatsrente, jegliche Hilfen beim Wohnungskauf und sukzessive die Subventionen beim Erdgas und der Fernwärme. Kürzungen sind auch beim Kindergeld und beim Elterngeld vorgesehen. Schließlich soll das Renteneintrittsalter der Ungarn von 62 auf 65 Jahre erhöht werden.
Zusammen mit den bereits von der Regierung Gyurcsány geplanten Kürzungen belaufen sich die staatlichen Minderausgaben auf 825 Milliarden Forint (ein Euro sind ca. 300 Forint) allein für 2009 – und das in einer schweren Rezession. Während dessen werden in Westeuropa fleißig Konjunkturprogramme aufgelegt. Die Europäische Union und der Internationale Währungsfonds, die Ungarn bereits mit einem Milliardenkredit vor dem Staatsbankrott retten mußten, beharren auf einer restriktiven Haushaltspolitik. Auch im Wahljahr 2010 will der um die Chancen der Sozialisten offenbar kaum besorgte Bajnai noch einmal Ausgabenkürzungen von 300 bis 400 Milliarden Forint durchsetzen.
Die Sozialdemokraten werden diese rabiate Sparorgie politisch nicht übernehmen, da die ungarische Rechte ihre soziale Demagogie inzwischen nahezu perfektioniert hat. Die rechtskonservative Fidesz bezeichnete diese Maßnahmen in einer ersten Erklärung als das »brutalste Sparpaket aller Zeiten« und forderte umgehende Neuwahlen. Weit über 50 000 Menschen konnte die Rechte auf den Heldenplatz im Herzen Budapests bei ihrer sonntäglichen Demonstration mobilisieren, während der die Fahnen rechtsextremer Gruppen mit den Ãrpád-Streifen der ungarischen Nazikollaborateure (der Pfeilkreuzler) unübersehbar waren. Jüngsten Meinungsumfragen zufolge kann die Fidesz derzeit mit mehr als zwei Dritteln aller Wählerstimmen rechnen. Die offen faschistische Partei Jobbik hat gute Chancen, bei den kommenden Wahlen zum Europaparlament die Fünfprozenthürde zu überspringen.