Heilsamer Schock

„Junge Welt“, 26.01.2008

Die Lieferengpässe infolge des russisch-ukrainischen »Gaskriegs« haben in Polen eine hektische Debatte über künftige Energiepolitik ausgelöst

Eigentlich kam Polen bei dem kürzlich beigelegten, wochenlang zwischen Rußland und der Ukraine tobenden »Gaskrieg« relativ glimpflich davon. Als in vielen süd- und osteuropäischen Ländern die Gasversorgung zusammenbrach, während Kiew und Moskau sich um Preise und unbezahlte Rechnungen stritten, konnten zwischen Oder und Bug keine größeren Versorgungsengpässe festgestellt werden. Dies liegt vor allem an der Jamal-Pipeline, die das russische Erdgas über Belarus nach Polen befördert. Nur 25 Prozent des für Polen bestimmten russischen Erdgas wird über ukrainisches Territorium befördert.

Trotzdem sitzt der Schock tief in Warschau, da dieser jüngste energiepolitische Konflikt dem Land – wie auch weiten Teilen der EU – die enorme Abhängigkeit von russischen Energieträgern vor Augen geführt hat. Von den 14 Milliarden Kubikmeter Erdgas, die Polen jährlich verbraucht, werden 6,2 Milliarden direkt von Gasprom geliefert, weitere 2,3 Milliarden Kubikmeter zentralasiatischen Erdgases fließen ebenfalls über das russische Pipelinenetz gen Polen. Die gesamte europäische Union wird immerhin zu 40 Prozent mit russischem Erdgas versorgt.

In Warschau ist nun einer hektische Debatte ausgebrochen, wie diese Abhängigkeit vermindert werden könnte. Am 13. Januar machte Polens Premier Donald Tusk erste diesbezügliche Überlegungen der polnischen Politik publik. Es sei die »oberste Priorität« der Regierung, die Energiesicherheit das Landes durch eine »breite Diversifizierung« der Energiequellen zu gewährleisten, so Tusk. Dies solle nach Meinung des polnischen Regierungschefs ausgerechnet durch den Einstieg in die Atomkraft gewährleistet werden: »Bis 2020 haben wir vor, Energie aus einem oder zwei Atomkraftwerken fließen zu sehen«, erklärte Tusk salopp. Warschau werde in dieser Angelegenheit Konsultationen mit Südkorea und Frankreich führen, hieß es weiter. Derzeit generiert Polen seine Elektrizität zu 94 Prozent aus Kohlekraftwerken, doch im Rahmen der Klimaschutzmaßnahmen der EU muß diese Abhängigkeit von fossilen Energieträgern langsam gemindert werden. Zudem plant Warschau den kostspieligen Aufbau eines Flüssiggas-Hafens, wie er schon nach dem letzten Gasstreit in 2006 diskutiert wurde. Bis 2013 solle dieses Projekt abgeschlossen sein, meldete die Gazeta Wyborcza. Das verflüssigte Erdgas soll aus Qatar oder Norwegen bezogen werden.

So einig sich Polens politische Klasse beim Ziel der Diversifizierung der Energieversorgung gibt, so zerstritten waren Präsident Lech Kaczynski und Premier Tusk bei ihrem Vorgehen während der Gaskrise. Während der notorisch antirussische Staatschef sich eindeutig auf die Seite Kiews stellte und ein Krisentreffen mit dem ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko organisierte, distanzierte sich die polnische Regierung von Kiew: »Polen sollte nichts unternehmen, was den aktuellen Gasstreit anheizen könnte«, ließ beispielsweise Polens Außenminister Radoslaw Sikorski salomonisch verlauten. Hinter den Kulissen gaben polnische Politiker zu verstehen, daß Warschau enttäuscht über die unklare, innenpolitische Entwicklung in der Ukraine sei: »Das größte Übel ist, daß sich die ukrainischen Politiker mit der permanenten Krise abgefunden haben, sich nicht mal an ihr stören«, gab beispielsweise der ehemalige Staatspräsident Aleksander Kwasniewski gegenüber der Gazeta Wyborcza zu Protokoll.

Heftige Kritik hört man in Warschau erneut an der Ostsee-Pipeline, die russisches Erdgas an Polen vorbei direkt nach Deutschland befördern soll. »Heute sieht man ganz deutlich, daß die Energiesicherheit in Europa davon abhängt, ob wir auf unterschiedliche Quellen und nicht nur auf verschiedene Leitungen zurückgreifen können,« erklärte Tusk im Hinblick auf das deutsch-russische Projekt, das der heutige Außenminister Sikorski vor ein paar Jahren noch mit dem Hitler- Stalin-Pakt verglichen hat. Als Gegenprojekt forciert Warschau nun die Nabucco-Pipeline. Diese von der EU geplante Gasleitung soll Erdgas aus Zentralasien und demKaukasus über Georgien und die Türkei an Rußland vorbei gen Westen befördern. Bislang krankte dieses Vorhaben an mangelnden verbindlichen Lieferzusagen, sodaß eine Auslastung der Transportkapazität dieser Pipeline nicht gewährleistet war.

Doch nun intensivieren selbst Länder wie Bulgarien, das eine umfangreiche energiepolitische Kooperation mit Moskau eingegangen ist, ihre Bemühungen zur Realisierung des Nabucco-Projekts. So erklärte unlängst der bulgarische Präsident Georgi Parwanow, die Pipeline, die Bulgarien seit langem unterstütze, sei auch Teil einer »neuen Politik des Westens gegenüber der Kaspischen und Schwarzmeerregion«. Derselbe bulgarische Staatschef hat im Februar 2008 enthusiastisch die Teilnahme seines Landes am russischen Konkurrenzproduktprojekt, der South-Stream-Pipeline, begrüßt. Brüssel ist ebenfalls längst aktiv geworden. Am 19. Januar weilte Kommissionspräsident José Manuel Barroso zu einer eiligst anberaumten Staatsvisite in der Türkei, während der er Ankara in Aussicht stellte, zu einem »energetischen Knotenpunkt der Region« aufzusteigen. Die letzte Gaskrise habe Europa vor Augen geführt, wie wichtig die Diversifizierung der Energiequellen sei, erläuterte Barroso.

Die Chancen für eine Realisierung der Nabucco-Pipeline seien gestiegen, meldete am 19. Januar die polnische Tageszeitung Rzeczpospolita, da am 27. Januar eine internationale Konferenz in Budapest geplant sei, die sich ausschließlich »mit dem Bau einer Gasleitung vom Kaspischen Meer bis nach Europa« beschäftigen werde. Bereits jetzt hat die EU erste Konsequenzen aus der jüngsten Unterbrechung russischer Gaslieferungen gezogen und 3,5 Milliarden Euro für den Ausbau des europäischen Energieleitungsnetzes bewilligt.

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