Tatort Chatyn, Belarus

„Junge Welt“, 10.06.2008
Ein beeindruckender Gedenkstättenkomplex erinnert an das schrecklichste Kapitel der Geschichte der Republik – und widerspiegelt das Grauen der Nazi-Okkupation. Ein Besuch

Man fährt lange Zeit durch belorussische Wälder, bis man zur 1969 errichteten, abgeschieden gelegenen Gedenkstätte Chatyn kommt, die an die Verbrechen der deutschen Besatzer während des Zweiten Weltkrieges erinnert. Der Gedenkstättenkomplex befindet sich auf dem Terrain eines ehemaligen Dorfes, das von den deutschen Faschisten mitsamt aller Einwohner verbrannt wurde. Gewidmet ist dieses Mahnmal nicht nur den Bewohnern Chatyns, sondern Hunderten Dörfer des Landes, die von den Faschisten in ihrem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion im Zuge von »Vergeltungsmaßnahmen« ausgelöscht wurden.

Das Mahnmal besteht aus mehreren Elementen. Im Eingangsbereich befindet sich eine überlebensgroße Bronze­skulptur des Dorfschmieds Josef Kaminski, der ein totes Kind in seinen Händen trägt. Als die Deutschen am 22. März 1943 das Dorf umstellten und alle Einwohnern in die Scheune trieben, sie mit Benzin übergossen und anzündeten und die in Panik flüchtenden Menschen mit Maschinengewehrensalven niedermachten, war Kaminski nicht im Dorf. 149 Bewohner wurden ermordet. Der älteste war über 80, das jüngste Kind sieben Wochen alt. Anschließend plünderten die Deutschen und zündeten alle 27 Häuser an. Zwei Kinder überlebten das Massaker mit starken Verbrennungen, Josef Kaminski war der einzige erwachsene Überlebende der Dorfgemeinschaft. Die Bronzeskulptur zeigt ihn mit seinem sterbenden Sohn in seinen Armen.

Ein perfekt ausbalanciertes Verhältnis zwischen Abstraktion und Konkretion zeichnet die weiteren Elemente der Gedenkstätte aus, eine erschütternde Balance des Grauens, die starke emotionale Reaktionen hervorruft. Die Gedenkstätte ist genau dem konkreten Aufbau des vernichteten Dorfes nachempfunden. Dort, wo einstmals die brennende Scheune über den Opfern zusammenbrach, findet sich eine schwarze Steinplatte, die an diesen grausigen Vorgang mahnt. Kurz hinter der Skulptur folgen aschgraue Betonplatten der ehemaligen Dorfstraße zu weiteren Denkmälern, die die Fundamente und den Schornstein abgebrannter Häuser andeuten – sie stehen genau dort, wo einstmals die Bauern von Chatyn ihre Wohnstätten hatten. Nach dem Massaker und dem Brandschatzen blieben nur die steinernen Schornsteine übrig. Der Anblick der Verwüstung ist in diesen abstrahierten, an die konkreten Stellen der alten Wohnstätten plazierten Denkmälern verewigt – diese Konstellation ist es, die den Besucher das damalige Grauen nachempfinden läßt.

Die deutsche Vernichtungsmaschine überzog die Sozialistische Sowjetrepublik Belarus mit unvorstellbarem Grauen. Von den 270 größeren Ortschaften, die es damals im Land gab, wurden 209 größtenteils zerstört. Die Hauptstadt Minsk beispielsweise wurde zu 80 Prozent verwüstet. 620 Dörfer wurden mitsamt Einwohnern vernichtet – 620mal Chatyn, 620mal Lidice, 620mal Oradour. Neuesten Forschungen zufolge fielen 2,5 Millionen Bürger von Belarus dem Massenmordprogramm der Nazis zum Opfer, ein Drittel der damaligen Bevölkerung. »Vielfach werden wir gefragt, warum wir diesen Krieg nicht vergessen können, warum es so viele Denkmäler in Belarus gibt. Aber es ist so, daß es bei uns keine Familie gibt, die nicht Tote zu beklagen hätte«, erklärte Natalja Kirilowa, die stellvertretende Direktorin der Gedenkstätte Chatyn. Erst 1973 erreichte Belarus die Einwohnerzahl von vor dem Krieg wieder.

Auf einem weiten Feld versuchten die Gedenkstättenplaner, die Dimensionen dieses bestialischen Massenmordprogramms zumindest ansatzweise zu visualisieren, indem sie die 186 Dörfer und Ortschaften, die nach dem Krieg nicht wiederaufgebaut werden konnten, mit eigenen Denkmälern bedachten. Ein weiterer Abschnitt der Gedenkstätte ist den Bewohnern gewidmet, die in Dutzenden deutschen Konzentrationslagern auf dem Gebiet der Sowjetrepublik umkamen. In einer schräg scheinbar auf den Besucher bedrohlich zufallenden Betonwand sind auf 200 Metern kleine Nischen untergebracht, in denen Bronzeplatten über die Orte und Opferzahlen des faschistischen KZ-Systems Auskunft geben. Nach Angaben von Frau Kirilowa reichten diese 200 Meter nicht aus, um alle Lagerstandorte in Belarus zu erfassen. Die zwei ersten Nischen sind den Kinder-KZ gewidmet, in denen sich die deutschen Okkupanten beispielsweise vier bis achtjährige Kinder zum Blutspenden für ein nahegelegenens Militärkrankenhaus hielten. Inzwischen sind allein elf solcher Standorte bekannt. Am zentralen Mahnmal finden sich drei Birken und eine ewige Flamme, die daran erinnert, daß jeder dritte Belorusse während des Krieges sein Leben verlor.

Im Museum der Gedenkstätte werden deutsche Karten gezeigt, die im Rahmen des »Generalplans Ost« erstellt wurden und auf denen die geplante Besiedlung von Belarus durch deutsche Kolonisatoren dargestellt wird. Die Bevölkerung der Sowjetrepublik sollte auf 25 Prozent des Vorkriegsstandes dezimiert werden und als eine rechtlose Helotenklasse den deutschen »Herrenmenschen« dienen. Es gab wohl keine denkbare Bestialität, die nicht von den Faschisten in die Tat umgesetzt wurde. Zu sehen sind heute ganze Wände mit Fotografien unzähliger Massaker, die größtenteils von den deutschen Tätern »zur Erinnerung« aufgenommen wurden. Diese aus dem öffentlichen Bewußtsein der BRD verbannten, ganz privaten Dokumente des Massenmords sind hier jedem Kind bekannt – allein während unseres vierstündigen Aufenthalts in Chatyn strömen mehrere Schulklassen an uns vorbei, aus der gesamten Republik, um etwas von der im Nach-DDR-Deutschland verpönten antifaschistischen Erziehung zu erhalten.

Im Gespräch mit junge Welt erläuterte Leonid Mendelejewitsch Lewin, Koarchitekt des Mahnmals und Vorsitzender des Verbandes der Jüdischen Gemeinden von Belarus, die Spezifika des Gedenkstättenkomplexes Chatyn. Obwohl das Denkmal vor 40 Jahren gestalten worden sei, während der Kunstperiode des »Sozialistischen Realismus«, wirke es immer noch zeitlos: »Wenn man dieses Denkmal heute sieht, so scheint es aber, als habe es die Zeit überdauert, als sei es aus der heutigen Zeit,« erklärte Lewin. Dies liege vor allem an der Hauptaussage des Mahnmals. »Wir sagen mit voller lauter Stimme: Nein zum Krieg, Krieg in jeder Form.« Das Denkmal sei »eine Erinnerung, es zeigt die Realität, wie sie stattgefunden hat, es zeigt und spiegelt wider, wohin der Haß auf andere führt. In unserem Denkmal kommt deswegen keine Gewalt vor. Jeder, der nach Chatyn kommt, soll diese Botschaft in sein Herz lassen.«

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