„Junge Welt“, 13.02.2008
Bevölkerung sagt nein – Ungarns Sozialdemokraten peitschen Privatisierung des Gesundheitswesens trotzdem durch
Es gehört wohl inzwischen zur Routine in der politischen Kultur Ungarns, wenn am Vorabend einer wichtigen Parlamentsabstimmung Sicherheitskräfte die Volksvertretung hermetisch abriegeln müssen. So war es auch am Montag, als die ungarischen Abgeordneten über die heftig umstrittene Gesundheitsreform abzustimmen hatten. Die sozial-liberale Koalition um den als »Lügenpremier« bekannten sozialdemokratischen Regierungschef Ferenc Gyurcsany konnte ihre Reform auch in der zweiten Abstimmung durchdrücken – diesmal mit 203 zu 173 Stimmen.
Dabei lehnt nicht nur die überwältigende Mehrheit der ungarischen Bevölkerung und der Ärzteschaft die durch das »Reformpaket« angestrebte Privatisierung des Gesundheitswesens ab. Auch der ungarische Präsident László Sólyom hatte sich zunächst geweigert, das Gesetz zu unterschreiben und es zur erneuten Beratung ans Parlament zurücküberwiesen. Nachdem es nun – marginal abgeändert – abermals die »Volksvertretung« passierte, muß Sólyom es laut Verfassung signieren. Es sieht vor, mehreren privaten Konzernen, die als »Krankenkassen« auftreten, jährlich umgerechnet die acht Milliarden US-Dollar zu offerieren, über die zur Zeit noch die staatliche Krankenversicherung die Verfügungsgewalt besitzt. Ungarische Ärztevertreter erwarten in Folge eine massive Verschlechterung der gesundheitlichen Versorgung.
Während der Abstimmung am Montag kam es vor dem Parlament wieder zu den fast schon obligatorischen physischen Auseinandersetzungen: Demonstranten überwanden die Absperrungen und wurden von Polizei unter Einsatz von Tränengas zurückgedrängt. Seitdem heimlich aufgezeichnete Mitschnitte von einer sozialdemokratischen Parteisitzung auftauchten, auf denen Gyurcsany zugab, während des Wahlkampfes die Wähler »von vorne bis hinten belogen zu haben,« hat die Regierung bei der Bevölkerungsmehrheit jeglichen Kredit verloren.
Im Vorfeld der Parlamentssitzung kam es indes zu einer bislang nicht gekannten Eskalation. Die Wohnungen von vier Abgeordneten der Regierungskoalition wurden am Freitag mit Brandbomben angegriffen, es entstand teilweise erheblicher Sachschaden. Eine rechtsextreme Gruppierung namens »Ungarische Pfeile der Armee der Nationalen Befreiung« übernahm in einem Bekennerschreiben die Verantwortung für diese Angriffe. Diese Gruppe trat zum ersten Mal im Dezember vergangenen Jahres in Erscheinung, als die einen Fernsehenmoderator brutal zusammenschlug. Dieser sei ein »jüdischer Mietling«.
Die Versuche rechtsextremer Gruppen, die Proteste gegen die vorgeblich linke Regierung für ihre menschenverachtende Politik zu instrumentalisieren, führten zu einer Spaltung und Schwächung der Proteste gegen die Privatisierung des Gesundheitswesens. Zudem konnten sich die Sozialdemokraten kurz vor der entscheidenden Abstimmung als die »Opfer« faschistischen Terrors in Szene setzen und ihre Zustimmung zum Reformpaket fast schon als Akt antifaschistischen Widerstands verkaufen.
Auch wenn nicht mehr so viele Ungarn wie noch vor Monaten gegen die Gesundheitsreform auf die Straße gehen, deren Ablehnung bleibt enorm. Nachdem Hunderttausende sich an einer entsprechenden Unterschriftenkampagne beteiligten, wird im März die Bevölkerung bei einem Referendum zumindest über die ebenfalls geplanten Krankenhaus- und Praxisgebühren abstimmen. Laut neuesten Prognosen wollen an die zwei Drittel der Befragten die Einführung dieser Gebühren ablehnen. Zudem sammelt eine Privatinitative erneut Unterschriften, um bei einer weiteren Volksbefragung das gesamte »Reformpaket« zur sicheren Abwahl durch die Wählerschaft zu stellen. Noch können Ungarns Kranke also hoffen.