„Junge Welt“, 03.01.2008
Auch in USA mehren sich Stimmen gegen Raketenabwehr in Osteuropa
Die Stationierung der in Polen und Tschechien geplanten US-Raketenabwehr wird inzwischen auch innerhalb der US-amerikanischen Öffentlichkeit offen in Frage gestellt. In einem Leitartikel vom 30. Dezember zweifelte die New York Times (NYT) den strategischen Nutzen einer solchen Militärbasis mit zehn Abfangraketen im Norden Polens an. Das einflußreiche Ostküstenblatt äußerte Verständnis für die »skeptische Haltung« der neuen polnischen Administration gegenüber der Raketenbasis, da diese zu recht sicherstellen wolle, daß die »zusätzliche Sicherheit für Polen nicht von den diplomatischen Kosten überwogen« werde. Zudem sei die in Tschechien geplante Radarstation, die Teil der Raketenabwehr sein soll, dort ebenfalls umstritten, so die NYT.
Der Kongreß in Washington hat überdies die Finanzierung des Projekts vorerst gestoppt, bis das polnische und tschechische Parlament dem Aufbau der entsprechenden Militärstützpunkte zustimmen. Doch diese Parlamentsabstimmungen könnten nach Ansicht der New York Times obsolet werden. Es sei dumm und kontraproduktiv, einen hohen finanziellen und diplomatischen Preis zu zahlen, um mit einem noch nicht funktionierenden System auf eine Gefahr zu antworten, die noch nicht existiere, lautete die vernichtende Einschätzung durch die NYT.
Das als politisches Leitmedium fungierende Blatt schlägt konkret vor, die von Rußlands Präsident Wladimir Putin vorgeschlagene gemeinsame Nutzung eines Militärstützpunktes in Aserbaidschan ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Dies hätte laut der NYT mehrere Vorteile für die US-Außenpolitik: Zum einen könne eine gemeinsame amerikanisch-russische »Militäroperation an den Grenzen des Iran« Teheran dazu bringen, »seine Nuklearpläne zu überdenken«. Andererseits würde Moskau so der Vorwand genommen, sein »Toben und die fortgesetzten Ungezogenheiten« fortzusetzen. Natürlich – das sagt die Times nicht offen – würde eine solche russisch-amerikanische Militärbasis die Kooperation zwischen Moskau und Teheran ernsthaft stören, die kürzlich durch die Lieferung von russischem Nuklearbrennstoff an iranische Kernkraftwerke intensiviert wurde.
Erst wenige Tage vor der Veröffentlichung dieses brisanten Leitartikels, der prompt in der polnischen Presse für Aufruhr sorgte, bekräftigte der russische Botschafter in Aserbaidschan, Wassili Istratow, die Bereitschaft Rußlands zu einer entsprechende Kooperation. »Das russische Angebot an die USA zur gemeinsamen Nutzung des Raketenabwehr-Radars im aserbaidschanischen Gabala (Südkaukasus) ist noch immer gültig«, meldete die Nachrichtenagentur RIA-Novosti am 28. Dezember.
Der neuen polnischen Administration unter dem rechtskonservativen Premier Donald Tusk, die gleich nach Regierungsantritt die Raketenabwehr in Frage stellte, läuft die Zeit davon. Es gilt als sicher, daß Warschau durch die offenen Zweifel an dem Projekt zumindest zusätzliche Sicherheiten und bessere Konditionen bei der Stationierung der Abfangraketen in Polen erreichen wollte. Zugleich machte Tusk die Verbesserung der russisch-polnischen Beziehungen zu einer außenpolitischen Priorität. Bei einer für Februar geplanten Staatsvisite in Rußland will Tusk auch über die Raketenabwehr verhandeln und diese vielleicht als Verhandlungsobkjekt gegen russische Zugeständnisse bei anderen Konflikten – wie der Ostseepipeline – zur Disposition stellen. Wie es scheint, schmilzt gerade diese Verhandlungsmasse Warschaus rapide dahin.