„Junge Welt“, 13.08.2007
Rußlands Akademiker: Letztes Gefecht gegen Klerikalisierung der Gesellschaft
Es war die Elite der russischen Wissenschaft, die in einem äußerst scharf formulierten offenen Brief an Präsident Wladimir Putin die Alarmglocken läuten ließ. Zehn Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften – unter ihnen die Nobelpreisträger Vitali Ginsburg und Schores Alfjorow – äußerten sich Ende Juli besorgt über »die zunehmende Klerikalisierung der russischen Gesellschaft« und ein »aktives Eindringen der Kirche in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens«. Die allesamt noch vom fortschrittlichen sowjetischen Wissenschaftsverständnis geprägten Spitzenforscher beschuldigten die russisch-orthodoxe Kirche, »die wissenschaftlichen Kenntnisse in Zweifel zu ziehen, aus dem Bildungswesen die wissenschaftlich-materialistische Weltsicht zu tilgen und die von der Wissenschaft gespeicherten Erkenntnisse durch den Glauben zu ersetzen«, wie RIA-Nowosti berichtet.
Die Wissenschaftler richteten sich in dem Schreiben explizit an den Kreml, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen, in den Unterricht der allgemeinbildenden Schulen das Fach »Grundlagen der orthodoxen Kultur« einzuführen sowie das »wissenschaftliche« Fach Theologie akademisch aufzuwerten. Alle Grundschüler der Russischen Föderation sollen schon ab dem nächsten Schuljahr mit den orthodoxen Werten und Riten vertraut gemacht werden. »Man kann sich nur wundern, wieso um der Erde willen Theologie – eine Ansammlung religiöser Dogmen – als eine Wissenschaft angesehen werden soll«, hieß es provokant in dem akademischen Brandbrief.
In den Hochschulen von Belgorod, Kaluga, Brjansk und Smolensk sind bereits Einführungskurse in russischer Orthodoxie für alle Studenten verbindlich, in weiteren zehn Regionen sollen sie als Wahlkurse angeboten werden. In einem Radiointerview erklärte der inzwischen 90jährige Ginsburg, daß die Klerikalisierung des russischen Bildungswesens nicht nur den Lernprozeß der Schüler behindert sondern auch die Anhänger anderer Religionen, wie der 20 Millionen russischer Moslems, beleidige: »Rußland ist ein multiethnisches Land, oder etwa nicht? Aber sie unternehmen keine Schritte, um die Grundlagen moslemischer Moral zur Sprache zu bringen; sie kümmern sich nur um die Orthodoxie. Zehn bis 20 Prozent aller Schüler können Tataren sein. Sollen sie jetzt auch orthodoxe Kultur studieren?«
Die Unterzeichner des Aufrufs reagierten auch auf die Zurschaustellung religiöser Hingebung durch Präsident Putin, der die russische Orthodoxie offen unterstützt. Nach Ansicht der Wissenschaftler bestehe die Gefahr, daß die Trennung zwischen Staat und Kirche in Rußland verwischt werde, da die Kirche auch in den Streitkräften an Einfluß gewinne.
Radikale religiöse Gruppen stellten daraufhin Strafanzeige gegen die Wissenschaftler, da deren Kritik ihre »religiösen Gefühle« verletzt haben soll. Der Moskauer und allrussische Partiarch Alexij II. bezeichnete den offenen Brief in der vergangenen Woche als bolschewistische Propaganda und die in ihm formulierten Anschuldigungen als »Echos der Parolen sowjetischer Atheisten«. In welches Märchenland der russische Oberhirte seine zahlreicher werdenden Schäfchen führen will, darüber gibt seine Forderung Auskunft, den russischen Kindern auch im Biologieunterricht die »biblische Wahrheit« nahezbringen. »Wer will, der soll doch daran glauben, er stamme von einem Affen ab«, spottete Alexij II. kürzlich über die Evolutionstheorie.