„Junge Welt“, 21.05.2007
Rußland: Trotz rasantem Wirtschaftswachstum und Investitionsboom steigt die Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Warnung vor Zunahme »revolutionärer Stimmungen«
Rußlands Wirtschaft befindet sich derzeit auf Rekordkurs. Im ersten Quartal dieses Jahres wuchs das Bruttosozialprodukt (BSP) des Landes gegenüber dem Vorjahr um 7,9 Prozent – das ist der höchste Wert der vergangenen sieben Jahre. Begünstigt wurde dieses stürmische Wachstum durch die anhaltend hohen Preise für Energieträger, die noch immer den Löwenanteil des russischen Exports ausmachen, sowie durch die ungewöhnlich milde Witterung im vergangenen Winter.
Als Zugpferde dieses fast schon an chinesische Dimensionen grenzenden Booms wirkten der Bausektor mit einem Wachstum von 22,7 Prozent, der Einzelhandel mit 13,6 Prozent und die Industrieproduktion, die um 8,4 Prozent zulegen konnte. Das Verkehrswesen und die Landwirtschaft Rußlands bilden hingegen die Schlußlichter des aktuellen Aufschwungs. Hier betrugen die Wachstumsraten lediglich drei bzw. 1,9 Prozent, wobei diese Werte immer noch über denen des Vorjahreszeitraums liegen.
Steigende Einnahmen
Dank der reichlich sprudelnden Deviseneinnahmen stieg das russische Durchschnittseinkommen im ersten Quartal 2007 um satte 18,4 Prozent, bei einer Inflation von unter zehn Prozent. Der statistische Durchschnittslohn beträgt inzwischen landesweit umgerechnet ca. 360 Euro, in Großraum Moskau sind es sogar 870 Euro. Dieser Einkommenszuwachs gilt als der wichtigste Faktor des durch die steigende Nachfrage angetriebenen Wirtschaftsbooms. Größere Teile der Bevölkerung sind nun in der Lage, am Warenkonsum zu partizipieren. Der für Lebensmittelerwerb aufgewendete Anteil der Einkünfte geht zurück, die Sparquote und die Aufwendungen für haltbare Güter steigen hingegen.
Ab 2007 erlebt Rußland zudem einen spürbaren Anstieg der Investitionstätigkeit. Begünstigt wurde dies durch einen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik der russischen Regierung, die nun darangeht, die in »Stabilisierungsfonds« geparkten Deviseneinnahmen aus dem Rohstoffexport zu investieren. Der Fonds wuchs 2007 auf umgerechnet 108 Milliarden US-Dollar an. Überdies schwimmt der russische Fiskus derzeit in Geld. Laut einer Mitteilung des Finanzministeriums summierte sich der Überschuß des Staatshaushalts allein zwischen Januar und April dieses Jahres auf 15,4 Milliarden Euro. Nun sollen 24 Milliarden US-Dollar aus dem »Stabilisierungsfonds« entnommen werden, um damit Anteile an internationalen Konzernen zu erwerben.
Man wolle ins internationale Öl- und Gasgeschäft, aber auch in den Immobiliensektor einsteigen, erklärte der russische Finanzminister Alexej Kudrin der Financial Times Ende April. Kudrin betonte überdies, daß diese in einem sogenannten Zukunftsfonds zusammengefaßten Investitionsmittel durchaus »risikoreich« investiert und von westlichen sowie russischen Fondsmanagern betreut werden sollten. Der »Stabilisierungsfonds« soll hingegen weiterhin bestehenbelieben und langfristig einen Umfang von etwa zehn Prozent des russischen BSP halten.
Der Kreml will sich aber nicht nur am Monopoly auf den globalen Finanzmärkten beteiligen. In den vergangenen Monaten wurden umfassende Investitionsprojekte angekündigt, die zur Modernisierung vieler Bereiche der russischen Infrastruktur beitragen sollen. So werden in diesem Jahr die Investitionen in den Erdgassektor um 60 Prozent gegenüber dem Vorjahr steigen und nahezu vier Milliarden Euro betragen. Die Ausgaben für den Straßenbau werden 2007 ebenfalls um weitere drei Milliarden Euro erhöht. Ein langfristiges Investitionsprogramm kündigte der Kreml für die Stromwirtschaft an: Hier sollen bis 2020 umgerechnet 343 Milliarden Euro aufgewendet werden, um diesen Sektor umfangreich zu modernisieren. Inzwischen investiert auch ausländisches Kapital verstärkt in Rußland. Finanzminister Kudrin erklärte im April, daß vom dem gesamten Investitionsvolumen von 164 Milliarden US-Dollar im Jahr 2006 an die 26 Milliarden auf ausländische Investitionen entfielen – in diesem Jahr sollen es ihm zufolge sogar 30 Milliarden werden.
Wachsende Unzufriedenheit
Dennoch sind viele Russen von dem Wirtschaftsboom ausgeschlossen. So lehnten in einer Ende April publizierten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM knapp 55 Prozent der Befragten die gegenwärtige Gesellschaftsordnung ab, da diese auf den »ungerechten und rechtswidrigen« Privatisierungen der 90er Jahre basiere, und forderten stattdessen eine »Umverteilung des Eigentums«. Eine Mehrheit der Umfrageteilnehmer gab zudem an, mit der eigenen sozialen Lage unzufrieden zu sein, nur 28 Prozent beurteilten ihre gegenwärtige Situation positiv. »Eine gewisse Entfremdung der Gesellschaft von der Macht ist im Gange«, stellte der WZIOM-Mitarbeiter Leontij Bysow gegenüber der russischen Tageszeitung Gaseta fest. »Danach ist auch eine Zunahme revolutionärer Stimmungen möglich.« Während die Mächtigen untätig seien, wachse im Volk der Haß auf »erfolgreichere Mitbürger«, ergänzte Jelena Matrossowa, Direktorin des Zentrums für makroökonomische Studien. Der soziale Friede in Rußland sei in Gefahr, so das Fazit des Gaseta-Artikels. Auch die Einkommensunterschiede zwischen den Regionen der Russischen Föderation nehmen weiter zu. Nach Angaben des Regionalministeriums ist das Pro-Kopf-Einkommen in den reichsten Regionen Rußlands inzwischen etwa zehn mal so hoch wie in den ärmsten Landesteilen. Ausgerechnet die russisch-orthodoxe Kirche machte kürzlich klar, woher der Wind in Rußland derzeit weht: So forderte Metropolit Kyrill, Leiter des kirchlichen Außenamtes, Ende April die Einführung einer Luxussteuer für Reiche, um damit den »Abstand zwischen Arm und Reich in Rußland« zu verringern.