„Junge Welt“, 30.04.07
Hauptursache für die sich zuspitzende Krise zwischen Rußland und Estland ist Tallinns Geschichtsrevisionismus
Die aktuelle Krise zwischen Rußland und Estland bildet den bisherigen Höhepunkt in den sich seit Jahren verschlechternden Beziehungen, die vor allem durch den im Baltikum um sich greifenden Geschichtsrevisionismus begründet sind. Mehrmals schon protestierte das russische Außenministerium vergebens, als ehemalige SS-Leute in Estland und Lettland unter Polizeischutz Paraden abhielten. Im estnischen Lagedi wurde 2005 sogar ein Denkmal für die Zehntausenden Esten aufgestellt, die in Kampfverbänden der Waffen-SS an der Seite Hitlerdeutschlands kämpften.
Estnische Spitzenpolitiker gehören nicht selten zu den eifrigsten Bewunderern der zu »Freiheitskämpfern« verklärten SS-Männer. Premier Andrus Ansip bezeichnete noch im Juni 2006 den Kampf der estnischen Faschisten als »heroisch« und ließ 25000 Euro an Steuergeldern für den Aufbau eines Museums »zu Ehren« der 20. estnischen SS-Grenadierdivision bewilligen. Sein Amtsvorgänger Juhan Parts nahm 2005 sogar an einem Treffen von SS-Veteranen aus Deutschland, Dänemark, Holland und Norwegen teil. Die Denkmäler, die an jüdische oder sowjetische Opfer des faschistischen Vernichtungsprogramms erinnern, werden hingegen oftmals geschändet.
Einen weiteren Streitpunkt zwischen Moskau und Tallinn bildet die Diskriminierung der russischen Minderheit in Estland, die 25 bis 30 Prozent der 1,35 Millionen zählenden Gesamtbevölkerung ausmacht. Erst im vergangenen März verabschiedete das estnische Parlament ein Gesetz, das die Entlassung von Arbeitern erleichtert, die mangelnde Kenntnisse des Estnischen aufweisen. Bei den letzten Parlamentswahlen waren 200000 russischstämmige Einwohner Estlands von dem Urnengang ausgeschlossen worden. Durch rigorose Sprachprüfungen können viele Russen weder die estnische Staatsbürgerschaft noch eine Arbeitserlaubnis erhalten. Zudem gibt es in Estland kaum Möglichkeiten, eine Schulbildung in Russisch zu absolvieren.
In dem aktuellen Streit ist Estland weitgehend isoliert, die EU erklärte die jetzige Krise zu einer »bilateralen Angelegenheit«. Selbst das eng mit Estland verbündete Lettland distanzierte sich von den revisionistischen Umtrieben in Tallinn. Dabei lehnte sogar eine knappe Mehrheit der estnischen Bevölkerung den Abriß des sowjetischen Ehrenmals ab. Laut einer Umfrage vom März dieses Jahres sprachen sich 48 Prozent der Befragten gegen einen Abriß aus, 38 Prozent befürworteten diesen.