„Junge Welt“ 01.11.06
Antrittsbesuch des polnischen Premiers Kaczynski bei Kanzlerin Merkel in »freundschaftlicher Atmosphäre«. Streitpunkte zwischen Berlin und Warschau bleiben bestehen
Er sei mit den Ergebnissen seiner Staatsvisite am Montag in Berlin zufrieden, erklärte Polens Premier Jaroslaw Kaczynski. »Es gelang, etwas Eis aufzubrechen, einige Fragen konnten vorangetrieben werden. Ich sprach mit der Kanzlerin Angela Merkel fast vier Stunden lang«, so das Resümee Kaczynskis gegenüber der polnischen Springer-Zeitung Dziennik (Dienstagausgabe). Gegenüber der Presse sprach auch Merkel von einer »sehr ehrlichen« und »sehr freundschaftlichen« Atmosphäre, in der das Treffen verlaufen sei.
Eine etwas bessere Atmosphäre ist dann auch das einzige konkrete Ergebnis des Berlinbesuchs Kaczynskis, der wieder mehr Normalität in die frostigen deutsch-polnischen Beziehungen bringen sollte. In keinem der Streitpunkte, die das Verhältnis beider Länder belasten, konnte eine merkliche Annäherung erreicht werden.
Am Vorabend des Staatsbesuchs hatte Kaczynski in einem Interview mit der deutschen Springer-Zeitung Bild seinen Standpunkt umrissen. Er rief die deutsche Seite auf, im Rahmen eines völkerrechtlich bindenden Vertrages auf jegliche Entschädigungsforderungen gegenüber Polen zu verzichten. Zudem betonte Kaczynski die ablehnende Haltung Polens gegenüber der Ostseepipeline, über die russisches Gas unter Umgehung Polens direkt nach Deutschland geliefert wird.
Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz am Montag bekräftigte Angela Merkel die ablehnende Haltung Berlins zu der polnischen Forderung nach einer vertraglichen Regelung der Entschädigungsfrage, die von sogenannten Vertriebenenorganisationen erneut gestellt wird. Sie wisse zwar, »welche Beunruhigung zum Beispiel die Tätigkeit der Preußischen Treuhand immer wieder in Polen auslöst«, doch ein Verzicht Deutschlands auf jegliche Entschädigungsforderung per Vertrag würde nach Ansicht der deutschen Kanzlerin »die Dinge komplizierter machen«. Die Preußische Treuhand bereitet eine Sammelklage auf Entschädigung deutscher »Vertriebener« durch den polnischen Staat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor.
Eine Beteiligung Polens an der Ostseepipeline scheint ebenfalls nicht mehr in Frage zu kommen. Im Vorfeld des Treffens wurde in polnischen Medien über ein deutsches Angebot spekuliert, eine Abzweigung der Pipeline nach Polen zu verlegen. Den Äußerungen Kaczynskis bei der Pressekonferenz war aber zu entnehmen, daß die deutsche Seite diesen Vorschlag während der Gespräche nicht unterbreitet hat. Polens Premier gab sich alle Mühe, aus der Not eine Tugend zu machen und kündigte an, Polen werde nun auf die Diversifizierung seiner Gasversorgung hinarbeiten. Sein Land sei daran interessiert, Energie aus Ländern wie Norwegen und Schweden zu beziehen. Eine Stichstrecke von der russisch-deutschen Pipeline würde Polen nur stärker vom russischen Monopolisten Gasprom abhängig machen, so Kaczynski. Die deutsche Seite versprach, diese Bemühungen Polens zu unterstützen.
Begleitet war der Staatsbesuch von heftiger Kritik deutscher Politiker an der polnischen Regierung. Die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, wünschte sich in einem Interview mit der Rheinischen Post eine neue polnische Regierung, da es kaum einen Themenkreis gebe, in dem von der amtierenden Führung des Landes nicht ein Angriff gegen Deutschland gefahren werde. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) pflichtete der CDU-Politikerin am Montag bei und erklärte, Warschau habe aus nichtigem Anlaß Zwiste geradezu organisiert. Von einer »freundschaftlichen Atmosphäre« in den deutsch-polnischen Beziehungen kann abseits des Gipfeltreffens also keine Rede sein.