Publiziert am 15.11.2005 in „junge welt“
Obwohl in Polen die 40-Stundenwoche gilt, sind deutlich längere Arbeitszeiten für viele Beschäftigte an der Tagesordnung
Polen ist nach Jahren sozialdemokratischer Herrschaft ein Dorado des neuzeitlichen Manchesterkapitalismus. Das macht sich nicht nur an der EU-weit höchsten Arbeitslosenquote fest. Als im Juni dieses Jahres im europäischen Parlament eine Direktive zur Diskussion stand, die die Arbeitszeit in einigen Berufsfeldern auf 48 Wochenstunden begrenzen sollte, stellten sich diesem Vorhaben insbesondere Großbritannien und das östliche Nachbarland Deutschlands energisch entgegen. Die polnische Seite begründete ihre Haltung mit dem dann drohenden Kollaps ihres Gesundheitswesens, da die dort tätigen Ärzte und Krankenschwestern weit länger arbeiten müssen.
48 Stunden und mehr
Doch es sind nicht nicht nur die im Gesundheitswesen Beschäftigten, die jenseits der 48-Stunden-Woche arbeiten. Laut den Angaben der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) beträgt die durchschnittliche Jahresarbeitszeit in Polen 1956 Stunden. Im EU-Durchschnitt sind es 1550, in Deutschland sogar nur 1 446 Stunden. Obwohl seit 2001 in ganz Polen eine 40-Stunden-Woche eingeführt und die Samstagsarbeit offiziell abgeschafft wurde, stieg die durchschnittliche Wochenarbeitszeit laut den Berechnungen des Marktforschungsinstituts CBOS auf 44,6 Stunden. Dieser Studie zufolge arbeitet jeder vierte Beschäftigte in Polen weit mehr als 40 Stunden in der Woche, Arbeitszeiten von über 60 Wochenstunden sind nicht selten.
Betroffen sind hier insbesondere die »freien« Berufe, die zahlreichen Scheinselbstständigen sowie Kleinstunternehmer und Bauern. Inzwischen gelingt es der privaten Wirtschaft zusehends, auch die abhängig Beschäftigten durch die Einführung neuer »Kombilohnmodelle« zu längeren Arbeitszeiten zu zwingen. Die Ableger der großen westlichen Unternehmen seien dazu übergegangen, minimale Löhne mit Prämien zu koppeln, die bei Übererfüllung des Arbeitssolls ausgezahlt werden, erklärte unlängst der Psychologieprofessor Tadeusz Marek von der Universität Warschau gegenüber der Zeitschrift Polityka. Das dann anstehende Arbeitsvolumen sei aber in acht Stunden nicht zu bewältigen, so Marek weiter. Die den Arbeitsablauf selbst organisierenden Lohnabhängigen arbeiteten folglich bis zur Leistungsgrenze.
Betroffen ist vor allem die Generation der im Zuge des Ausbaus des Hochschulwesens verstärkt auf den Arbeitsmarkt drängenden Akademiker. Zwischen 1997 und 2002 stieg der Anteil der 25- bis 34jährigen mit Hochschulbildung an den Berufstätigen von zehn auf 17 Prozent. In dieser Gruppe herrscht eine besonders hohe Arbeitslosigkeit, und eine gewerkschaftliche Organisierung ist de facto nicht gegeben. Marek machte in diesem Milieu auch neue Wortschöpfungen aus, die der veränderten sozialen Lage Rechnung tragen. So habe sich inzwischen der Begriff des »Zweitlohns« (druga pensja) etabliert, der die zusätzlichen Einkünfte subsumiere, die über Prämien, Nebentätigkeiten und Zusatzverpflichtungen erworben werden.
Rund um die Uhr
Die Mehrarbeit weitet sich unablässig auf weitere Sektoren von Wirtschaft und Gesellschaft aus. 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche stehen die großen, von westlichen Konzernen wie Metro oder Tesco errichteten Einkaufszentren bereit, um die Konsumwünsche der vermeintlichen Workaholics aus Polens Mittelschicht zu befrieden. Die »Hypermärkte« der französischen Tesco-Gruppe verzeichnen z. B. zwischen 22 und sieben Uhr früh an die 20 Prozent ihrer Kunden. Eine elitäre Kette von privaten Warschauer Kindergärten mußte die Betreuung ihrer Schützlinge immer weiter verlängern. Inzwischen warteten viele Kinder bis 18 Uhr, so der Kindergartendirektor Jacek Wawer gegenüber Polityka, und es riefen immer noch Eltern an, die um eine Verlängerung der Betreuungszeiten bitten würden.
Den Preis der schleichenden Arbeitszeitverlängerung sieht Tadeusz Marek u. a. in der Zunahme psychischer Krankheiten, wie Depressionen und Nervenleiden. Dem Psychologen zufolge ist die Grenze der Belastbarkeit in vielen Berufszweigen schon längst erreicht. Dagegen liege die Produktivität in Polen mit 59,9 Prozent weit unter dem EU-Durchschnitt, so Marek.