Am Rande des Desasters

„Junge Welt“, 22.05.2012
Eigentlich stellt sich nur noch die Frage, wann die Euro-Zone auseinanderbricht – die Folgen ­jedenfalls würden gravierend sein

Während Teile der Euro-Zone nach der griechischen Wahl Anfang Mai in den offenen Panikmodus überzugehen drohen, schwanken Deutschlands Meinungsmacher zwischen Wunschdenken und imperialen Drohgebärden: »Wenn Griechenland fällt, dann alleine«, deklarierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) Mitte Mai. Das Szenario eines Dominoeffekts, bei dem »Griechenland als erster Stein die ganze Währungsunion zum Einsturz bringt«, sei unglaubwürdig, da andere Krisenländer schon weit vorangekommen seien auf dem »Sanierungskurs«. Sollten die Griechen der Wahlempfehlung der FAZ nicht Folge leisten, müßte an Hellas ein »Exempel statuiert« und das Land aus der Euro-Zone geworfen werden. Das konservative Leitmedium träumt auch schon von Militärinterventionen, die noch im Konjunktiv formuliert werden: »An internationale Schutztruppen, wie sie weiter nördlich zur Stabilisierung taumelnder Staaten stationiert sind, wird man hoffentlich nicht denken müssen«, hieß es in einem Kommentar der FAZ vom 18. Mai.

Läßt sich die Krisendynamik bei einem Ausschluß Griechenlands tatsächlich auf dessen ökonomischen Kollaps beschränken, eventuell gepaart mit Entsendung von Soldaten zur Aufstandsbekämpfung? Die bisherigen Reaktionen der Märkte auf das Patt nach den Wahlen legen eher nahe, daß eine die gesamte Euro-Zone zerreißende Kettenreaktion nur sehr schwer abwendbar wäre. So erreichten die Zinsen spanischer und italienischer Staatsanleihen umgehend ihren Jahreshöchststand. »Es sieht zurzeit alarmierend aus. Der Markt versucht effektiv, einen unregelmäßigen Austritt Griechenlands zu beziffern«, kommentierte ein Analyst gegenüber der Financial Times (London) Mitte Mai die angespannte Lage auf den Finanzmärkten.

Bis zur griechischen Schicksalswahl am 17. Juni wird der europäi­sche Finanzsektor äußerst fragil und schockanfällig bleiben. Der Aufruhr an den Finanzmärkten resultiere aus der Befürchtung, daß der »Schutzwall der Euro-Zone sich als ungenügend für Spanien und andere bedrängte Länder erweisen könnte, falls Griechenland in einem ungeregelten Verfahren aus der Währungsunion austritt«, konstatierte die Financial Times. Der EU-Rettungsschirm ESM würde höchstwahrscheinlich nur zur Stützung Spaniens reichen, für Italien hat er keine Kapazität mehr. Inzwischen wurden Planungen publik, den ESM mit einer Bankenlizenz auszustatten, damit dieser sich unbegrenzt Geld bei der EZB zur Stützung von Krisenländern im Falle eines griechischen Bankrotts leihen könne – dies liefe auf massive Gelddruckerei hinaus, die einem enormen Inflationsschub befördern würde.

Als nahezu sicher gilt, daß ein Austritt Griechenlands zumindest ­Spanien mitreißen würde. Dessen Finanzsystem droht unter der Last fauler Kredite in Umfang von nahezu 150 Milliarden Euro zusammenzubrechen. Am 17. Mai mußte die Madrider Regierung bereits Berichten entgegentreten, wonach ein Bankensturm auf das teilverstaatlichte Finanzinstitut Bankia eingesetzt habe. Italien befindet sich erst am Anfang dieser Abwärtsspirale aus Rezession und Sparterror. Doch auch hier deutet der im März um nahezu 15 Prozent eingebrochene Auftragseingang der Industrie auf eine Vertiefung der Rezession hin. Trotz aller Haushaltskürzungen stieg im März der italienische Schuldenberg um 17,8 Milliarden auf 1,94 Billionen Euro.

Überdies kann ein unkontrolliertes Auseinanderbrechen der Euro-Zone noch vor dem griechischen Wahl­abend einsetzen. Es würde vollkommen reichen, wenn das bereits begonnene massenhafte Abheben von Bargeldbeständen in Griechenland an Dynamik gewinnt. Bisher haben bereits rund 700 Millionen die Konten verlassen. Die zwangsläufig mit einem Austritt verbundene Abwertung der neuen Drachme hätte einen enormen Vermögensverlust für die Griechen zur Folge. Ein Ansturm auf die Banken, um die Ersparnisse zu sichern, scheint vorprogrammiert. Die Schließung der Kreditinstitute wären ebenso die Folge wie entsprechende Schockreaktionen der Finanzmärkte.

Für Deutschlands Steuerzahler kämen selbst im günstigsten Fall eines isolierten Ausscheidens Griechenlands Kosten von bis zu 86 Milliarden Euro zu. Bei der gesamten EU steht das Land mit rund 311 Milliarden in der Kreide. Die Folgen eines chaotischen Zusammenbruchs der Euro-Zone wären auch für die europäische Hegemonial­macht Deutschland unkalkulierbar. Dennoch ist Berlin nicht gewillt, von der fixen Idee zu lassen, mitten in einer Systemkrise ganz Europa Sparprogramme aufzunötigen. EU-Diplomaten bezeichneten gegenüber britischen Medien diese Halsstarrigkeit als einen deutschen »Todeswunsch«, der Europa an »den Rand des Desasters« führe. Die gegenwärtige Krisenverschärfung bildet somit keine Reaktion auf eine mangelnde Sparbereitschaft der Südländer, sondern auf Merkels brutalen Austeritätskurs in Europa. Bei Beibehalten dieses Kurses wird die Euro-Zone eher früher denn später zwangsläufig auseinandergerissen.

Das sieht auch Chef des linken Wahlbündnisses SYRIZA und Favorit für die anstehenden Wahlen, Alexis Tsipras, ähnlich. »Die Umsetzung der Sparpolitik ist offensichtlich gescheitert – nicht nur in Griechenland, sondern auch in Spanien, Portugal, Italien, Irland und anderen Ländern«, sagte er in einem am Montag veröffentlichtem Gespräch mit der Nachrichtenagentur Reuters. Tsipras plädiert unter anderem für umfassende Konjunkturprogramme, die Einführung von Euro-Bonds und direkte Aufkäufe von Staatsanleihen durch die EZB. Nach dem Sieg des französischen Sozialisten François Hollande sei Kanzlerin Angela Merkel in ihrer Opposition zu diesen Krisenmaßnahhmen »zum ersten Mal extrem isoliert«. Am Montag hat Tsipras sich in Paris unter anderem mit dem linken Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Melenchon getroffen, für den heutigen Dienstag stehen Beratungen mit Klaus Ernst und Gregor Gysi von der Linken an.

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