Raum ohne Volk

Telepolis, 23.07.2014
Der Boom der deutschen Metropolregionen geht mit der Entvölkerung weiter Landstriche in der Peripherie der Bundesrepublik einher

Wir erinnern uns: „Blühende Landschaften“ versprach Bundeskanzler Helmut Kohl anlässlich der Wiedervereinigung den Bundesbürgern in den neuen Bundesländern. Und tatsächlich scheinen sich des Altkanzlers prophetische Worte nun, rund ein Vierteljahrhundert nach der weitgehenden Deindustrialisierung Ostdeutschlands im Verlauf der Treuhand-Privatisierung, endlich zu bewahrheiten. Angesichts einer rasch voranschreitenden Entvölkerung wandeln sich viele ländliche Regionen Ostdeutschlands in riesige informelle Naturparks, in denen die dortige Flora ungehindert erblühen kann – einfach deswegen, weil kaum noch jemand da wäre, der diese Naturprozesse tangieren könnte.

Mit Ausnahme der Metropolregionen Berlin, Leipzig und Dresden prognostiziert die Bundesregierung für Ostdeutschland in den kommenden Dekaden weiterhin einen „hohen Bevölkerungsrückgang“, wie es in dem Leitlinienentwurf der Bundes- und der Landesraumordnungsminister Mitte 2013 hieß. Die Raumordnungsplanung sehe sich mit der Herausforderung konfrontiert, in diesen verödenden Regionen „die Erreichbarkeit von Versorgungseinrichtungen“ zu sichern.

Damit verstetigt sich die Landflucht in Ostdeutschland zu einem dauerhaften, quasi historischen Prozess, der eigentlich schon seit den frühen 1990er Jahren andauert. Allein zwischen 2003 und 2008 ist die Bevölkerung in zwei Dritteln aller ostdeutschen Gemeinden um mehr als fünf Prozent gesunken. Und die weiteren Aussichten für viele Kleinstädte und Dörfer zwischen Ostsee und Ostharz sind nicht minder düster: Mit Ausnahme des Einzugsgebiete der Großstädte müssen fast alle Landkreise in der ehemaligen DDR mit einem Bevölkerungsschwund von 10 bis mehr 15 Prozent bis 2025 gegenüber dem Stand von 2007 rechnen. In Relation zu 1990 werden in einzelnen Regionen und Städten mitunter massive Abwanderungsströme von 30-50 Prozent erwartet. Seit dem Mauerfall hat Ostdeutschland laut dem Institut der Deutschen Wirtschaft rund zwei Millionen Einwohner verloren.

In Ostdeutschland entstehen somit riesige ländliche Räume, Dörfer und Kleinstädte, denen buchstäblich das „Volk“ ausgeht. Ein besonders krasses Beispiel für diese Entvölkerungsprozesse bildet etwa die sächsische Kleinstadt Hoyerswerda, die vor allem durch ausländerfeindliche Ausschreitungen und Übergriffe durch Neonazis bundesweit zu trauriger Berühmtheit gelangte. Die rasch schrumpfende NPD-Hochburg, in der Ende der 1980er Jahre rund 72.000 Menschen lebten, wird Prognosen zufolge 2030 nur noch 23.400 Menschen umfassen. Ähnlich dramatisch ist die Lade im thüringischen Suhl, dessen Einwohnerzahl sich zwischen 1990 und 2030 halbieren soll.

Dabei stellt Landflucht längst nicht nur ein ostdeutsches Phänomen dar – auch wenn die fünf neuen Bundesländer hiervon besonders stark betroffen sind. Im Westen sind es einerseits die krisengeschüttelten ehemaligen Industrieregionen wie das Saarland und das Ruhrgebiet, in denen Abwanderungstendenzen zunehmen. Daneben sind agrarisch geprägte Landstriche in Südostniedersachsen, Nordhessen, Nordostbayern (insbesondere in der Grenzregion Bayrischer Wald) und im westlichen Rheinland-Pfalz (etwa die ehemalige Schuhindustriestadt Pirmasens) von diesem demografischen Aderlass betroffen.

Das Ruhrgebiet, einstmals das industrielle Zentrum der Bundesrepublik, ist schon heute zu einer ökonomischen und demografischen Krisenregion verkommen: Gelsenkirchen verlor seit dem Einsetzen der Deindustrialisierungsschübe in den 1980ern mehr als 30 Prozent seiner Einwohner, Essen rund 20 Prozent, in Duisburg und Oberhausen sind es 16 Prozent.

Die Präsenz einer starken rechtsextremistischen Szene mag in vielen Fällen ein Symptom – und auch einen Beschleuniger – von Entvölkerungsprozessen darstellen, doch ihre tiefer liegende Ursache lässt sich unter Berücksichtigung der Arbeitslosenstatistik in den entsprechenden Landkreisen erschließen.
Regionen mit der höchsten Arbeitslosenrate weisen auch den stärksten Bevölkerungsschwund auf

Ein Blick auf die entsprechenden Karten der Bundesrepublik offenbart, dass die Regionen mit der höchsten Arbeitslosenrate und dem stärksten Bevölkerungsschwund nahezu deckungsgleich sind.

Der generelle Bevölkerungsrückgang in Deutschland, der nur durch substanzielle Zuwanderung aus dem Ausland zumindest verlangsamt werden kann, findet seine konkrete Ausprägung durch die Deindustrialisierungsprozesse in der Peripherie und den „alten“ Industrieregionen, die euphemisch immer wieder als „Strukturwandel“ bezeichnet werden. Die zunehmende Produktivität der spätkapitalistischen Industrie- und Landwirtschaft führt somit zu einem territorialen „Schrumpfungsprozess“ der Warenproduktion, die sich nur noch auf wenige hochproduktive „Cluster“, auf Anballungen von Produktionsstätten in den Metropolregionen oder im Südwesten der Bundesrepublik konzentriert, die für den Weltmarkt produzieren und in globale Produktionsketten eingebettet sind.

Im Endeffekt sind die boomenden Regionen Bayerns und Baden-Württembergs Teil eines transnationalen Clusters von dichter Industrieansiedlung, der sich um den Alpenraum erstreckt und zudem die Schweiz, Österreich und Norditalien erfasst. Aufgrund der ökonomischen und sozialen Statistik würde Bayern „besser zur Schweiz als zu Deutschland“ passen, titelte etwa Welt-Online, da der sozioökonomische Abgrund zu den „abgekoppelten“ Regionen im Norden oder Osten der Bundesrepublik immer weiter zunehme.

Die Industrialisierung, die seit dem 18. Jahrhundert das Antlitz der Erde dermaßen weitreichend umgestaltete, dass die Geologie die Einführung eines neuen Erdzeitalters – des Anthropozän – diskutiert, scheint ab dem gegenwärtig erreichten Produktivitätsniveau gerade in der Peripherie der Kernländer des kapitalistischen Weltsystems eine Revision der damit einhergehenden historischen Urbanisierungsprozesse auszulösen – ähnliche Abwanderungsbewegungen finden beispielsweise auch in Nordskandinavien und Mittelosteuropa statt.

In diesen Randgebieten der verbliebenen kapitalistischen Zentrumsländer droht ein Phänomen wiederzukehren, dass Historikern und Geschichtsinteressierten insbesondere aus dem krisengeschüttelten Spätmittelalter bekannt ist: Aufgrund der Pestepidemie des 14. Jahrhunderts und der schweren Strukturkrise der spätmittelalterlichen Gesellschaft aufgegebene Siedlungen wandelten sich in Wüstungen, in denen die gesamte Bausubstanz und Infrastruktur verfiel und letztendlich von der Natur „zurückerobert“ wurde – bis nur noch Ruinen, alte Urkunden oder lokale Überlieferungen an diese inzwischen größtenteils vergessenen Ortschaften erinnern.

Dabei fungiert Deutschland noch als Industriezentrum der Eurozone. Aufgrund der hohen Handelsüberschüsse der Bundesrepublik – mit denen ja auch Arbeitslosigkeit und Verschuldung exportiert werden – kann hierzulande noch die Illusion einer funktionsfähigen Arbeitsgesellschaft aufrechterhalten werden, die in vielen Ländern der kapitalistischen Peripherie, wie auch in weiten Teilen der krisengeplagten Eurozone, längst zerstoben ist. Die Kapitalzuflüsse in den „sicheren Hafen BRD“ befeuern überdies den Immobilienboom in den Großstädten (Im Bann der Eigentümer-Gesellschaft), der als ein weiterer Konjunkturmotor fungiert – und dessen Kehrseite eine „stille Immobilienkrise“ in vielen ländlichen Regionen Deutschlands bildet.

Die Menschen in der Peripherie der Bundesrepublik haben somit aufgrund der bundesweit vergleichsweise niedrigen Arbeitslosigkeit noch Möglichkeiten, vor der Arbeitslosigkeit in die Metropolregionen zu „fliehen“. Und genau diese Möglichkeiten – die den Einwohnern agrarisch geprägter Landstriche etwa in den Krisenländern Europas in demselben Ausmaß nicht gegeben sind – beschleunigen eben die „Entvölkerung“ der peripheren deutschen Regionen. Ein Beispiel: Bei einer landesweiten Arbeitslosenquote von 25 Prozent eröffnet ein Umzug von Andalusien nach Madrid kaum neue Perspektiven, während Lohnabhängige aus Mecklenburg-Vorpommern oder der Sächsischen Schweiz bei einem Umzug ins Schwabenländle durchaus auf Jobs hoffen können.

Hinreichende Arbeitsmöglichkeiten finden sich somit noch in den Metropolen und in weiten Teilen Südwestdeutschlands, während die Peripherie in vielen anderen Regionen der Bundesrepublik – und nicht nur im Osten, wie gezeigt wurde, von der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft regelrecht abgekoppelt wird. Somit korrespondiert der Entvölkerung der ländlichen Räume der Boom vieler deutscher Metropolregionen.

In Südwestdeutschland wird kaum mit Bevölkerungsschwund gerechnet (Ausnahme: Saarland), wobei die Metropolenregion München den bundesweit größten Bevölkerungszuwachs in ihrem Einzugsgebiet erleben soll. Insgesamt sollen laut einer Studie des IW Köln die 14 größten Metropolen der Bundesrepublik ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung von 15,5 Prozent in 2000 auf 18,8 Prozent in 2030 erhöhen.
Menschenleeres Land für die Agrarindustrie

Die agrarisch geprägten Regionen der Bundesrepublik sind zwar von Entvölkerung betroffen, doch dies bedeutet nicht etwa, dass sie nicht mehr wirtschaftlich genutzt würden. Flurwüstungen sind im Gegensatz zu Siedlungswüstungen kaum zu erwarten. Wer – etwa als „Aussteiger“ – ein zurückgezogenes Leben auf dem nahezu menschenleeren Land in Erwägung ziehen sollte, der wird kaum eine Bauernhofromantik vorfinden, wo man des Morgens beim Biobauern um die Ecke Eier und Milch von glücklichen Hühnern und Kühen kaufen kann. Stattdessen droht eher die Nachbarschaft zu einer der gerade aus dem Boden schießenden gigantischen Hühner- und Schweinemastanlagen, in denen die spätkapitalistische Agrarindustrie Zehntausende von Tieren unter bestialischen Bedingungen möglichst rasch zu schlachtreife bringt – und die ganze Landstriche mit ihrem Gestank und ihren Abwässern verpesten, währen sie aufgrund des hohen Produktivitätsniveaus vielleicht noch ein dutzend miserabel bezahlter Lohnabhängiger beschäftigen.

Bei einem Blick aus dem Fester wird der heutige Dorfbewohner immer öfter mit der Ödnis der europaweit um sich greifenden Monokulturen für Energiepflanzen wie Mais und Raps konfrontiert, die nicht nur der Auslaugung des Bodens Vorschub leisten, sondern ganze Landstriche in eine triste Monotonie tauchen.

Das Leben in einem menschenleeren und hochgradig industrialisierten ländlichen Raum ist nicht nur öde; es ist auch gar nicht so billig, wie man annehmen könnte. Die Aufrechterhaltung der grundlegenden zivilisatorischen Infrastruktur wird mit abnehmender Bevölkerungsdichte immer kostspieliger, da die verbleibenden Einwohner immer höhere Anteile der anfallenden Kosten tragen müssen. Bei Abwasser oder Müll droht gerade in „schrumpfenden“ Kleinstädten eine Kostenexplosion.

Wenn die bestehenden Kläranlagen oder eine Mülldeponien für eine größere Bevölkerungszahl ausgelegt sind, dann bleiben die verbliebenen Einwohner auf den Fixkosten sitzen. Die langen Wege machen bei niedrigerer Kundenzahl alle mobilen Dienstleistungen zusendest unrentabel, wie auch den täglichen Einkauf teurer als in den Ballungszentren. Wenn es überhaupt noch Supermärkte gibt: Viele Supermarktketten zeigen erst ab einer Bevölkerungszahl von 5000 Einwohnern Interesse an einer Filialöffnung.

Da in den verödenden Dörfern und Kleinstädten Deutschlands vor allem ältere Menschen zurückbleiben, wirkt sich der bereits voll einsetzende Ärztemangel in diesen Regionen besonders fatal aus. Eine eigenständige Anreise der Senioren in die nächste städtische Klinik dürfte sich angesichts des kaum noch gegebenen öffentlichen Fernverkehrs in diesen „abgehängten“ Regionen äußerst schwierig gestalten. Die Bahn hat im Verlauf ihrer Privatisierung einen großen Teil eben jener unrentablen Nebenstrecken stillgelegt, die für viele periphere Regionen die einzige Anbindung an das bundesweite Schienennetz darstellten. Ein Paradebeispiel für die Absurditäten des ländlichen Nah- und Fernverkehrs lieferte eine Stern-Reporter an einem Beispiel aus der nordhessischen Provinz:

Den Streckenschließungen sei Dank: Von Frankenberg nach Holzminden, Luftlinie 120 Kilometer, direkter Weg – fünfeinhalb Stunden mit fünf Umstiegen über insgesamt sieben Bahnhöfe. Verdammt.

Es rentiert sich einfach nicht, von Frankenberg nach Holzminden fahren zu wollen. Gerade die Menschen, die aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters oftmals nicht mehr auf PKW zurückgreifen können, sitzen somit in der Provinz buchstäblich fest. Demografen diskutierten sogar die Umsiedlung der betroffenen Bevölkerungsschichten, berichtete die Deutsche Welle:

Die Sozialforscher empfehlen deswegen, die verbleibende, meist ältere Bevölkerung in den ländlichen Gebieten dieser Regionen in Städte umzusiedeln – sonst sei ihre Versorgung nicht mehr zu gewährleisten.

Was tun mit dem Raum ohne Volk?

Damit würde die Entvölkerung der deutschen Peripherie praktisch vollendet. Doch was tun mit all dem Raum ohne Volk, zumal der „Rückbau“ – also der Abriss – der verödeten Siedlungen ungemein kostspielig ist?

Im deutsch-polnischen Grenzgebiet, insbesondere in der an die polnische Großstadt Stettin angrenzenden Uckermark, fand man in der Zuwanderung polnischer Pendler eine praktikable Lösung, wie die Zeit berichtete. Gefördert von ostdeutschen Kommunalpolitikern haben sich – trotz der obligatorischen Hetze der NPD gegen eine angebliche „Polonisierung“ – Tausende polnischer Familien in der Grenzregion niedergelassen und den Bevölkerungsschwund etwa in der Gemeinde Löcknitz gestoppt, die damit dem Trend zur Entvölkerung Vorpommerns trotzt:

Seit 2005 ziehen wieder mehr Menschen zu als weg, rund 3.200 Einwohner sind es inzwischen. Es gibt eine Krippe, eine Kita, einen Hort, eine Grundschule, eine weiterführende Schule und ein deutsch-polnisches Gymnasium. Alles ausgebucht. … Das wäre ohne die Polen nicht möglich gewesen. Denn sie sind es, die hier Land kaufen und Unternehmen gründen.

Am Beispiel von Löcknitz wird somit deutlich, dass die Verödung ganzer Landstriche in Deutschland und Nord- und Mittelosteuropa durch Zuwanderung durchaus verhindert werden könnte.

Dabei liegt die Lösung dieses Problems eigentlich auf der Hand: Während in Europa immer mehr Regionen veröden und die letzte Krise gut 11 Millionen leer stehende Wohnimmobilien hinterlassen hat, sammeln sich rund 800.000 verzweifelte Flüchtlinge an der Südküste des Mittelmeeres, um der Hölle des permanenten Bürgerkrieges in den peripheren Zusammenbruchsgebieten des Weltmarktes zu entkommen und in einer mörderischen Überfahrt nach Europa ihr Leben zu riskieren. „Wir haben gesehen, wie leer euer Land ist“, zitierte die Welt einen afrikanischen Flüchtling anlässlich der Auseinandersetzungen um die Schulbesetzung durch Migranten in Kreuzberg. Wer möchte ihm angesichts der eskalierenden demografischen Krise in weiten Teilen der Bundesrepublik widersprechen?

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