Geschichtspolitischer Spagat

Junge Welt, 08.07.2013

Warschau will der Weltkriegsmassaker an der polnischen Bevölkerung in der Westukraine gedenken – ohne dadurch die ukrainischen Nationalisten zu verprellen.

Zur ganz großen Geste der Aussöhnung dürfte es am kommenden Sonntag im westukrainischen Luzk nicht kommen. Der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch wird nicht zugegen sein, wenn sein polnischer Amtskollege Bronislaw Komorowski der polnischen Opfer der zahlreichen Massaker gedenkt, die ukrainische Faschisten während des Zweiten Weltkriegs in der Region ­Wolhynien begangen hatten. Schätzungsweise 100000 Polen hatte die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA), der bewaffnete Arm der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), im Juli 1943 ermordet. Den Vergeltungsaktionen polnischer Partisaneneinheiten fielen wiederum 20000 Ukrainer zum Opfer.

Komorowski bemühte sich zuletzt am vergangenen Mittwoch beim Treffen der sogenannten Visegrád-Gruppe, eines lockeren Kooperationsbündnisses mehrerer osteuropäischer EU-Länder, den als Gast weilenden Janukowitsch zur Teilnahme zu bewegen – vergeblich. Die Staatsoberhäupter kamen aber darin überein, im Vorfeld der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Massaker eine gemeinsame Erklärung zu veröffentlichen. Beide Seiten würden »alles unternehmen, was die Aussöhnung beider Völker« befördere, erklärte Janukowitsch. Komorowski sprach wiederum davon, daß seine Visite auch der »Aufrechterhaltung des guten Klimas« zwischen Polen und der Ukraine dienen solle, das durch den Besuch des ukrainischen griechisch-katholischen Erzbischofs Swjatoslaw Schewtschuk entstanden sei.

Ende Juni hatte Schewtschuk gemeinsam mit Vertretern der polnischen römisch-katholischen Kirche bei einem Treffen in Warschau eine gemeinsame Deklaration bezüglich der Massenmorde in Wolhynien veröffentlicht, die von polnischer Seite als erinnerungspolitischer Durchbruch eingeschätzt wurde. Erstmals habe die ukrainische Kirchenführung von »ethnischen Säuberungen« gesprochen und »eine Entschuldigung« formuliert, schrieb die polnische Gazeta Wyborcza. Die in der Westukraine aktive rechtsextreme Partei Swoboda konterkarierte die Initiative jedoch. In einer Presseerklärung erklärten Parteivertreter aus Wolhynien den polnischen Präsidenten zur unerwünschten Person. Mit seinem Besuch wolle dieser »die Ukrainer erniedrigen«. Die in Polen verbreitete Einschätzung, wonach es in der Westukraine 1943 zu einem Völkermord an der polnischen Minderheit gekommen sei, wecke in der Ost- und Zentralukraine »kaum Emotionen«, erläuterte die polnische Tageszeitung Rzeczpospolita. In der Westukraine werde der Völkermordvorwurf dagegen »fast schon wie eine Beleidigung« wahrgenommen. Die unterschiedliche Einschätzung der Massaker in Wolhynien würde immer noch beide Völker trennen. Die Trennlinie verlaufe aber nicht in Kiew, sondern auf dem »Territorium der am stärksten pro-europäischen und pro-westlichen« Westukraine, wo der Kult um die UPA und OUN noch besonders ausgeprägt sei.

Für die Regierung in Warschau wird das zum Problem. Für ihr Ziel einer raschen Integration Kiews in europäische Strukturen muß sie bei den Gedenken auf die pro-westlichen, rechtsextremen Kräfte in der Westukraine Rücksicht nehmen. Die im polnischen Parlament vertretenen Parteien konnten sich daher nicht einmal auf eine gemeinsame Resolution einigen, da der von der regierenden Bürgerplattform (PO) eingebrachte Vorschlag auf die Bezeichnung der Massaker als »Völkermord« verzichtete, die von vielen polnischen Rechtsparteien gefordert wurde. Die Rzeczpospolita sieht im vorsichtigen Vorgehen der PO die Absicht, den für November angestrebten Abschluß des Partnerschaftsabkommens zwischen der Ukraine und der EU zu befördern. Das Gedenken an den Völkermord stört da nur, denn »eine der Prioritäten der polnischen Außenpolitik«, so analysiert das Blatt, »stellt die Verbindung dieses Staates mit der EU und seine Entfremdung von Rußland dar«.

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