Peinliche Armut

„Junge Welt“, 06.06.2007
Offiziell leben 16 Prozent der Russen unterhalb des Existenzminimums. Vor Wahlen setzt Kreml auf höhere Mindestlöhne

Armut wurde von Rußlands Behörden lange ignoriert. Seit einiger Zeit zeigt sich der Kreml jedoch bemüht, die Lebensbedingungen der ausgegrenzten und sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten zumindest etwas zu bessern. So beschloß die Staatsduma im März, den in der Russischen Föderation gültigen Mindestlohn deutlich zu erhöhen. Ab September soll die minimale Entlohnung 2300 Rubel betragen, statt der 1100 Rubel (ca. 32 Euro) bisher. Ursprünglich sollte der Mindestlohn schon im Mai auf 1400 Rubel angehoben werden. Doch »Einiges Rußland«, die Partei von Präsident Wladimir Putin, forderte medienwirksam eine weitere Erhöhung, die »aufgrund der knappen Zeit«, wie die Zeitung Kommersant schrieb, erst im Herbst realisiert werden kann.

Die großzügige Verdopplung des Mindestlohnes hat ihre Tücken. So soll der Steuerfreibetrag, der bis dato an den Mindestlohn gekoppelt war, nicht mit diesem steigen. Also sind die Mindestlöhne demnächst zu versteuern. Überdies fließen auch die spärlichen staatlichen Zulagen und Unterstützungsleistungen für die Ärmsten der Armen in die Berechnung des Mindestlohnes ein, so daß dieser auch niedriger ausfallen kann. Die Regionen der Russischen Föderation erhalten zudem das Recht, ihren eigene – möglicherweise auch viel niedrigere – Mindestentlohnung festzulegen. Voraussetzung dafür ist, daß »die Autoritäten, die Arbeitgeber und die Gewerkschaften dem zustimmen«, wie Kommersant berichtet.

Trotz dieser Einschränkungen können jene 6,6 Millionen Russen, die mit weniger als 2000 Rubel monatlich ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen, auf eine leichte Verbesserung ihrer Lage hoffen. Zudem legt des Gesetz fest, den Mindestlohn ab Mai 2008 auf 3000 Rubel zu erhöhen, und bis Ende 2008 auf 4300 Rubel wiederum nahezu zu verdoppeln. 2008 finden in Rußland Präsidentschaftswahlen statt.

Trotz der Erhöhungen liegen die neuen russischen Mindestlöhne noch unterhalb des offiziellen statistischen Existenzminimums. Finanzminister Alexei Kudrin betonte während der Haushaltsdebatte Ende Mai in der Duma, daß der Mindestlohn erst 2011 das (äußerst niedrige) russische Existenzminimum erreichen wird – dieses solle dann Kudrin zufolge 5238 Rubel (ca. 150 Euro) betragen.

Manchem Politiker ist diese Armut peinlich und das Tempo bei deren Bekämpfung zu gemächlich. Ende Mai verkündete »Gerechtes Rußland«, die gemäßigt linke, vom Kreml als Konkurrenz zu den Kommunisten im Oktober 2006 gegründete Partei, die Abstimmung über den Haushalt 2008 bis 2011 boykottieren zu wollen. Fraktionschef Alexander Babakow begründete diese Schritt damit, daß die Löhne und Pensionen in diesem erstmalig für drei Jahre aufgestellten Haushalt nicht genügend angehoben würden. Die Anhebung der Pensionen um 65 Prozent sei nicht ausreichend, um die Deckung der Lebenshaltungskosten zu garantieren, so Babakow. Auch seien die sozialen Ausgaben des Dreijahreshaushalts nicht mit der Realität der boomenden russischen Ökonomie vereinbar. Allein mit der boomenden Erdölförderung seien jährlich mehrere hundert Milliarden Euro in Moskaus Kassen gespült worden.

Selbst laut offizieller Statistik leben derzeit 16,3 Prozent der russischen Bürger in extremer Armut, also unterhalb des Existenzminimums von gerade mal 3713 Rubel (106 Euro). Laut der Weltbank müssen zwölf Prozent der Russen sogar von umgerechnet zwei Dollar am Tag überleben. Dennoch ist eine leichte Besserung der sozialen Lage zu verzeichnen, weil Anfang 2006 noch über 18 Prozent der Bevölkerung unterhalb des Existenzminimums vegetierten. Dennoch beurteilt laut jüngsten Meinungsumfragen eine knappe Mehrheit der Befragten ihre persönliche soziale Situation als schlecht. Lediglich ein Viertel zeigte sich ausdrücklich zufrieden.

Rußland ist ein Land der sozialen Extreme. So liegen die Einkommen der reichsten zehn Prozent der Bevölkerung 25 mal höher als die des ärmsten Zehntels. Besonders kraß sind die Einkommensunterschiede im Ballungsgebiet Moskau, wo über eine halbe Million der ärmesten Russen leben: Hier verfügen die wohlhabendsten zehn Prozent der Bevölkerung ein im Schnitt 41 mal höheres Einkommen als die untersten zehn Prozent.

Dennoch gibt sich der Kreml zuversichtlich, eine eine einigermaßen wohlhabende Bevölkerungsgruppe dazwischen aufbauen zu können. Wirtschaftsminister German Gref schwärmte laut der Tageszeitung Wremja Nowosti schon Ende April von einer »Mittelschicht«, die 2010 bereits 30 bis 35 Prozent der Bevölkerung umfassen soll. Dazu zählt er Russen, deren Einkommen bei etwa dem Sechsfachen des Existenzminimum liegt. 2006 betrugen die Einkünfte dieser »Mittelschicht« – sie machte etwa 20 Prozent der Bevölkerung aus – umgerechnet 600 bis 700 US-Dollar monatlich. 2010 sollen es schon 900 bis 1100 US-Dollar sein, regelmäßige Urlaube im Ausland und »beachtliche Bankeinlagen und Immobilien« inklusive.

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