Europa: Am Rande des Abgrunds, aber deutsch (II)

german-foreign-policy.com, 24.02.2012

Neue Katastrophenmeldungen aus Griechenland bestätigen die fatalen Wirkungen des deutschen Spardiktats. Wie die Athener Regierung mitteilt, wird das Haushaltsdefizit des Landes erneut deutlich höher ausfallen als prognostiziert – nicht wegen angeblich mangelhafter, sondern aufgrund erfolgreicher Sparmaßnahmen, welche die griechische Wirtschaft systematisch in den Kollaps treiben. Immer wieder wird auf Druck Berlins die gleiche Krisenspirale abgespult: Athen muss drastische „Sparpakete“ umsetzen, um seine Verschuldung abzubauen; wegen der verheerenden Kahlschlagwellen brechen die private und die staatliche Nachfrage ein; dies verstärkt die Rezession und vergrößert das Heer der griechischen Arbeitslosen; dadurch sinken die Steuereinnahmen, während die anschwellende Arbeitslosigkeit die Staatsausgaben in die Höhe treibt. Das Ergebnis: Durch erfolgreich absolvierte „Sparprogramme“ steigt das Haushaltsdefizit Athens weiter an, abermals müssen auf Druck der deutschen Regierung harte Steuererhöhungen, Lohnsenkungen und Massenentlassungen gegen den verzweifelten Widerstand der Bevölkerung durchgesetzt werden. Eine gleiche Entwicklung zeichnet sich inzwischen deutlich in Portugal und in Spanien und ansatzweise in der gesamten Eurozone ab.
Sozioökonomische Todesspirale

Griechenland wird derzeit auf Betreiben Berlins buchstäblich in den gesellschaftlichen Kollaps „gespart“. Die jüngste Umdrehung dieser sozioökonomischen Todesspirale zeigte sich nur einen Tag nach der Einigung auf das aktuelle „Hilfspaket“: Am Mittwoch gab die Athener Regierung bekannt, das griechische Haushaltsdefizit werde in diesem Jahr aufgrund der sich verschärfenden Rezession mit 6,7 Prozent erneut höher ausfallen als prognostiziert (5,4 Prozent).[1] Damit verliert das gesamte, nach monatelangen aufreibenden Verhandlungen beschlossene EU-Maßnahmenbündel seine haushaltspolitische Grundlage. Laut der Vereinbarung sollen Griechenland in den kommenden Jahren 130 Milliarden Euro an weiteren Krisenkrediten zur Verfügung gestellt werden, um den Staatsbankrott zu verhindern. Die Gläubiger sollen formell auf 53,5 Prozent ihrer Forderungen gegenüber Athen verzichten. Dadurch soll die Staatsverschuldung trotz der andauernden Rezession von zur Zeit 160 Prozent des BIP auf 120 Prozent im Jahr 2020 gesenkt werden. Gelänge dies – was bezweifelt werden muss -, dann würden die griechischen Schulden exakt auf das Niveau sinken, das sie 2008, also vor Beginn der „Sparmaßnahmen“, hatten.

Wie im Protektorat

Der in bundesdeutschen Medien irreführend als „Rettungspaket“ bezeichnete Maßnahmenkatalog ergänzt das offensichtlich gescheiterte Spardiktat um extreme Auflagen, die die haushaltspolitische Souveränität der griechischen Regierung beschränken. Athen wird künftig permanent von einer „Expertengruppe“ der EU-Kommission und des IWF überwacht; zudem muss es auf deutschen Druck Gelder auf ein „Sonderkonto“ überweisen, zu dem die griechische Regierung keinen Zugang hat. Auf dieses Konto müssen Finanzmittel für die Tilgung der griechischen Verbindlichkeiten für drei Monate eingezahlt werden. Damit hat die deutsche Regierung ihre Forderung weitestgehend durchgesetzt, dem Schuldendienst in Griechenland oberste Priorität einzuräumen. Die brutalen Sparmaßnahmen sprechen für sich: Athen soll bei den Arzneimittelkosten rund 1,1 Milliarden Euro einsparen, obwohl inzwischen etwa Diabetiker Schwierigkeiten haben, Insulin zu erhalten. Die Renten werden um 15 Prozent gekürzt, während der Mindestlohn (751 Euro) um 22 Prozent gesenkt wird – bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 25 Jahre sogar um 32 Prozent. Im öffentlichen Dienst werden weitere 150.000 Menschen ihre Anstellung verlieren.[2]

Im freien Fall

Dabei handelt es sich um die inzwischen fünfte große Kahlschlagrunde, die auf deutschen Druck in Athen exekutiert wird. Milliardenschwere Austeritätsmaßnahmen (inklusive Lohn-, Renten-, und Sozialkürzungen sowie Steuererhöhungen) wurden bereits im März 2010, Mai 2010, Juni 2011 und September 2011 durchgesetzt. Jedesmal wurden die intendierten Spareffekte und Mehreinnahmen durch den sich beschleunigenden Wirtschaftsverfall vereitelt, der zu einem Einbruch der Staatseinnahmen führte. Griechenland befindet sich seit 2009 permanent in einer Rezession, wobei die letzten „Sparpakete“ den Abschwung noch auf den Rekordwert von 6,8 Prozent beschleunigten. Infolgedessen stieg die Erwerbslosigkeit von rund sieben Prozent im Jahr 2008 auf inzwischen 20,9 Prozent. Die von Kleinbetrieben geprägte und auf den Binnenmarkt ausgerichtete Industrieproduktion kollabierte aufgrund der um etwa die Hälfte einbrechenden Inlandsnachfrage um rund ein Drittel. Das deutsche Spardiktat und die rasch anschwellende Massenarbeitslosigkeit ließen die Arbeitnehmerentgelte um 22 Prozent einbrechen; das trug zum fortschreitenden Kollaps der Nachfrage bei: Die Einzelhandelsumsätze sanken seit Beginn der Krise im Jahr 2008 um rund die Hälfte, selbst der Umsatz von Lebensmitteln (!) ging um 35 Prozent zurück.[3]

Sparerfolge

Zahlreiche Sparmaßnahmen wurden dabei in Griechenland trotz gegenteiliger Behauptungen in den deutschen Medien durchaus „erfolgreich“ vollzogen. Dies zeigt die Entwicklung des sogenannten strukturellen Staatsdefizits, bei dem konjunkturelle Einflüsse auf den Haushalt herausgerechnet werden. Zwischen 2009 und 2011 wurde das strukturelle Staatsdefizit in Athen um den immensen Betrag von 11,4 Prozent des BIP abgesenkt, während es in Spanien nur rund 6,2 Prozent und in Irland nur vier Prozent waren. Zum Vergleich: In den vier Jahren nach der Implementierung der „Agenda 2010“ sank das strukturelle Haushaltsdefizit in Deutschland um gerade einmal 2,6 Prozent.[4] Griechenland hat sein strukturelles Staatsdefizit somit in drei Jahren mehr als viermal so stark verringert wie Deutschland in vier Jahren der Sozialstaatsdemontage und der Prekarisierung des Arbeitslebens. Dieser Effekt ist allerdings im griechischen Haushalt nicht wahrnehmbar, weil die Dauerrezession die Steuereinnahmen kollabieren lässt.

Deutsche Herren

Die Durchsetzung des jüngsten Sparpakets ging mit einer Eskalation der Spannungen zwischen Berlin und Athen einher. Für Wut und Empörung sorgen dabei die Forderungen deutscher Politiker nach einer Aushöhlung der staatlichen Souveränität Griechenlands. Das Verlangen, Athen haushaltspolitisch zu entmachten, wurde mit der Einführung des „Sonderkontos“ größtenteils realisiert. Zusätzlich brachte die Forderung des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble nach einer Verschiebung der für April angesetzten Parlamentswahlen die griechische Öffentlichkeit in Rage. Staatspräsident Karolos Papoulias, der sich während des Zweiten Weltkriegs als 14-Jähriger dem Widerstand gegen die deutschen Besatzer angeschlossen hatte, übte öffentlich scharfe Kritik: „Ich lasse nicht zu, dass Herr Schäuble meine Heimat beleidigt.“ Die Schuldenkrise treibe „einen immer tieferen Keil zwischen Athen und Berlin“, da viele Griechen feststellten, dass „der deutsche Sparkurs“ sie immer weiter in die Armut treibe, bemerkte jüngst selbst die deutsche Wirtschaftspresse.[5]

„Griechenland raus!“

In Deutschland wiederum gewinnt das Bemühen Oberhand, Griechenland möglichst kostengünstig zu entsorgen, da es aufgrund seiner kollabierenden Wirtschaft nicht mehr als Absatzmarkt für deutsche Exporte fungieren kann. Inzwischen sprechen sich auch Spitzenvertreter der deutschen Wirtschaftsverbände dafür aus, das Land aus der Eurozone auszuschließen. Es sei „marode und in einer Solidargemeinschaft eine untragbare Belastung“, erklärte etwa der Bosch-Chef Franz Fehrenbach.[6] Einer Umfrage zufolge wünschen sich inzwischen 57 Prozent von 300 befragten Funktionsträgern aus dem deutschen Spitzenmanagement, dass Griechenland wieder „die Drachme einführt“.[7] Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Hans-Peter Keitel, bezeichnete die jüngsten Austeritätsmaßnahmen als „letzte Chance“ für Griechenland.[8]

Eurozone: Die Rezession fasst Fuß

Dabei bildet Griechenland nur den bisherigen Extremfall der Austeritätspolitik, die Berlin mit dem „Fiskalpakt“ der gesamten Eurozone oktroyiert hat (german-foreign-policy.com berichtete [9]). Inzwischen sind nahezu alle Länder Europas auf einen strikten Sparkurs eingeschwenkt; dies macht sich in der heraufziehenden Rezession in der Eurozone bemerkbar. In den letzten drei Quartalen des Jahres 2011 sank das BIP im Euroraum um 0,3 Prozent, während die Industrieproduktion sogar um 1,1 Prozent nachgab (jeweils gegenüber dem Vorjahreszeitraum). Die Arbeitslosigkeit in der Eurozone verharrte auf dem historischen Spitzenwert von 10,4 Prozent. Von diesem Abschwung sind vor allem die südeuropäischen Länder betroffen, die auf deutschen Druck bereits umfassende Austeritätsmaßnahmen einleiten mussten. Insbesondere hat sich der Abwärtssog in Italien, der drittgrößten Volkswirtschaft der Eurozone, verstärkt: Das Land erlitt einen Wirtschaftseinbruch von 0,7 Prozent im letzten Quartal 2011 – nach einem Rückgang von 0,2 Prozent im zweiten Trimester. Der auf deutsch-französischen Druck in Rom eingesetzte Regierungschef Mario Monti hat einen harten Sparkurs eingeschlagen, der zur beschleunigten Wirtschaftskontraktion südlich der Alpen entscheidend beiträgt – und die Arbeitslosigkeit binnen eines Jahres um einen knappen Prozentpunkt auf 8,9 Prozent anschwellen ließ.

Portugal: Die Schulden steigen

Ungleich dramatischer gestaltet sich die Lage in Portugal, wo das im vergangenen Frühjahr oktroyierte deutsche Spardiktat inzwischen weitaus länger seine verheerende Wirkung entfaltete. Die Wirtschaftsleistung des Landes sank im vierten Quartal um 1,5 Prozent gegenüber dem Vorquartal und um 2,7 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Der harte Sparkurs in Lissabon ließ aufgrund wegbrechender Massennachfrage auch die Arbeitslosigkeit binnen eines Jahres um 1,2 Prozent auf 13,6 Prozent ansteigen. Zugleich ließ er aufgrund wegbrechender Steuereinnahmen die Schulden Portugals anschwellen: Bei Erhalt des „Hilfspaketes“ der EU und des IWF im Mai 2011 beliefen sich die Staatsschulden des Landes auf 107 Prozent des BIP; inzwischen sind es 118 Prozent. Dem Land droht somit eine ähnliche sozioökonomische Todesspirale aus Rezession, fallenden Steuereinnahmen und ausufernder Verschuldung wie Griechenland.

Spanien: Rekordarbeitslosigkeit

In Spanien, der viertgrößten Wirtschaft der Eurozone, gingen am vergangenen Sonntag Hunderttausende auf die Straßen, um gegen neue Arbeitsmarktreformen zu protestieren, die eine weitgehende Entrechtung der Lohnabhängigen und eine umfassende Prekarisierung des Arbeitslebens durchsetzen sollen. Die Arbeitslosigkeit in Spanien stieg aufgrund diverser Sparmaßnahmen binnen eines Jahres von 20,4 Prozent im Dezember 2010 auf den mit 22,9 Prozent europaweit höchsten Wert. Die spanische Wirtschaft ging nach einer Phase der Stagnation ebenfalls gegen Jahresende in einen Abschwung von 0,3 Prozent über. Auch Irland, von vielen neoliberalen Apologeten als Musterbeispiel gelungener Austeritätspolitik gepriesen, verzeichnete laut Eurostat einen kräftigen Wirtschaftseinbruch von 1,9 Prozent im zweiten Quartal 2011 – bei einer Arbeitslosigkeit von 14,5 Prozent.

Im Sog der Krise

Die Krise strahlt inzwischen auch auf das Zentrum Europas aus. Die europäische Hegemonialmacht Deutschland musste zuletzt einen Rückgang des BIP um 0,2 Prozent hinnehmen. In Österreich setzte eine Kontraktion von 0,1 Prozent ein. Die Niederlande befinden sich bereits in der Rezession, nachdem die dortige Wirtschaft im zweiten Quartal in Folge um 0,7 Prozent schrumpfte. Einzig das im Wahlkampf befindliche Frankreich konnte einen leichten Aufschwung von 0,2 Prozent verzeichnen. Wird das deutsche Spardiktat weiter toleriert, droht der gesamte Kontinent in Verhältnisse abzurutschen, wie sie inzwischen Griechenland prägen – und diesem Krisensog wird sich letztlich auch Deutschland nicht entziehen können.

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