Angst um Rußland

„Junge Welt“, 20.02.2012
Massenkundgebungen sowohl von Kremltreuen als auch Oppositioneller prägen den Präsidentschaftswahlkampf

Rußland steht ein turbulenter Präsidentschaftswahlkampf bevor, bei dem sowohl Opposition wie Regierungslager mit Massenkundgebungen und Protesten das Ergebnis zu beeinflussen hoffen. Am 23. Februar wollen die Anhänger des Ministerpräsidenten und Wahlfavoriten Wladimir Putin im Luschniki-Stadion aufmarschieren, nachdem ihnen eine Demonstration in der Innenstadt von der Stadtverwaltung verwehrt wurde. Die Opposition will dann erneut am 26. Februar zu Protesten mobilisieren, die aber laut dem Moskauer Vizebürgermeister Alexander Gorbenko mit 99prozentiger Wahrscheinlichkeit ebenfalls von dem in Kremlnähe gelegenen »Platz der Revolution« verbannt werden.

Sergej Udalzow von der »Linken Front« kündigte umgehend an, bei einem solchen Versammlungsverbot mit spontanen Demonstrationen und über das Internet koordinierte Flashmobs in der Innenstadt in Erscheinung zu treten. Die um eine Erneuerung der russischen Linken bemühte »Linke Front« ist Teil der äußerst heterogenen Oppositionsbewegung, die seit den von Manipulationsvorwürfen begleiteten Dumawahlen im Dezember gegen Putin und den Kreml mobilisiert. Neben den russischen Liberalen, die in der neuen russischen Mittelschicht ihren Massenanhang finden und eine strikte Marktpolitik wie Westannäherung anstreben, finden sich linke Gruppierungen und auch rechtsextreme Kräfte bei den Massendemos gegen ein Comeback von Putin. Auf die Straßen gingen insbesondere »die Mittelklasse, die Kleinbourgeoisie und die künstlerische Intelligenz«, erklärte Udalzow in einem Interview (Telepolis, 3. Februar). Die Linke müsse bei den Protesten Präsenz zeigen, ihre sozialen Forderungen einbringen und diese nicht »den liberalen und nationalistischen Kräften überlassen«. Im Endeffekt eint diese Opposition nur ihre Ablehnung des Machtsystems, das von Putin repräsentiert wird.

Bei den zurückliegenden Massendemonstrationen mußte diese widersprüchliche Opposition aber die Erfahrung machen, von einer Gegenbewegung zahlenmäßig weit übertrumpft zu werden. Selbst der oppositionsnahe Sender Echo Moskwy – der derzeit vom Kreml unter Druck gesetzt wird – mußte am 4. Februar melden, daß die Opposition nur 62000 Demonstranten in Moskau mobilisierte, während der Kreml 80000 Kundgebungsteilnehmer aufmarschieren ließ. Polizeiangaben zufolge hatte die Opposition nur 36000, der Kreml hingegen 136000 Demonstranten aufgeboten. Dabei handelte es sich nicht nur um »angeheuerte« Demonstranten, wie der Publizist Israel Shamir in einem Beitrag für das linke Portal Counterpunch erläuterte: »Viele der Kundgebungsteilnehmer waren für ihre Kritik an Putin und seinem Regime bekannt«, doch hätte der Haß auf die als neoliberal und prowestlich wahrgenommene Opposition diese Massenmobilisierung ermöglicht. Hierbei seien ebenfalls unterschiedlichste Gruppierungen quer durch das politische Spektrum – von orthodoxen Christen, Zarenanhängern bis zu Stalinisten – aufmarschiert. Es gebe in Rußland ein großes »Potential an Rußland-zuerst-Gefühlen, gepaart mit Verachtung für westliche imperialistische Politik«, so Shamir.

Putin und der Kreml können somit immer noch auf eine Massenbasis in der Bevölkerung bauen, wobei die Frontverläufe zwischen Opposition und kremltreuen Gruppen an zwei Themenkomplexen verlaufen. Die liberale Opposition befürchtet nach einem Wahlsieg Putins eine Ära der Stagnation, eine »bleierne Zeit« ähnlich der Breschnew-Ära, über die sich Putins Berater jüngst positiv äußerten. Die Unfähigkeit des im Morast ausufernder Korruption versinkenden Kreml, eine Modernisierungsstrategie umzusetzen, hat zu der wachsenden Opposition der russischen Mittelklasse unzweideutig beigetragen. Die für Putin demonstrierenden Russen fürchten hingegen, durch eine »bunte Pseudorevolution« als Peripherie in die Machtsphäre des Westens zu geraten. Diese Bevölkerungsteile denken mit Grauen an die Zerfallstendenzen und das Chaos der 90er Jahre zurück, als die liberalen und prowestlichen Kräfte in Rußland das Sagen hatten.

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