Die Krise in Europas Armenhaus

„Junge Welt“, 25.07.2011
Mangelernährung und Hunger greifen zwischen Algarve und Minho um sich

Schon vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise galt Portugal als eines der ärmsten Länder der Euro-Zone. Die von Eurostat, dem EU-Statistikamt, verfaßte Studie »The Social Situation in the European Union 2007« erfaßte rund 2,1 Millionen Arme dort, bei einer Gesamtbevölkerung von 10,6 Millionen. Das portugiesische statistische Amt schätzte vor der Krise, daß rund ein Fünftel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze vegetierte. Nahezu die Hälfte dieser pauperisierten Bevölkerungsschicht mußte bereits 2007 mit »weniger als zehn Euro pro Tag« überleben. Außerdem sind die Einkommen sehr ungleich verteilt, was durch die Kürzungsmaßnahmen seit Krisenausbruch noch weiter forciert wurde. Während der Durchschnittsverdienst in Portugal um 900 Euro liegt, können die Vergütungen im Management leicht westeuropäisches Niveau erreichen. Noch vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 2007 waren etwa 230000 Menschen in Portugal auf Armenspeisungen angewiesen, die von sogenannten »Lebensmittelbanken« landesweit koordiniert werden.

Ende 2010 drängten sich vor den rund 1800 Armenküchen des Landes bereits täglich 280000 Krisenopfer, um zumindest eine warme Mahlzeit am Tag zu ergattern. Mangelernährung und Hunger greifen innerhalb der rasch anschwellenden Schicht der Armen um sich, die mit gekürzten Sozialleistungen, steigenden Lebensmittelpreisen und der Anhebung der Konsumsteuern (Mehrwertsteuererhöhung) einen Großteil der Krisenkosten zu begleichen haben. Betroffen ist insbesondere die eine Million Menschen umfassende Schicht verelendeter alter Menschen, die mit Hungerrenten von weniger als 300 Euro abgespeist werden. Einer Studie der Nichtregierungsorganisation »Nutri-Action« zufolge leidet rund ein Drittel der 1,8 Millionen Portugiesen über 65 Jahre an Hunger oder ist unterernährt. Doch der Hunger dringt inzwischen in alle Altersschichten vor: Die Hilfsorganisation »Banco Alimentar« geht davon aus, daß 27 Prozent aller Portugiesen zumindest an »einem Tag im Monat« nichts zu essen haben.

Die Krise ließ auch das Heer der Arbeitslosen in Portugal rasch anschwellen. Während die offiziell erfaßte Erwerbslosenquote im ersten Quartal bei 7,6 Prozent lag, stieg sie im Krisenverlauf auf den bisherigen amtlichen Höchststand von 12,6 Prozent Mitte 2011. Für 2012 werden über 13 Prozent vorhergesagt. Auch die Jugendarbeitslosigkeit ist mit 30 Prozent besonders hoch, ein Ende des Beschäftigungsabbaus ist nicht in Sicht. Der Überschuß der »Ware Arbeitskraft« auf dem portugiesischen Arbeitsmarkt soll in diesem Jahr Gewerkschaftsprognosen zufolge zu Reallohnverlusten von 3,6 Prozent zwischen Porto und der Algarve führen. Sie gehen mit einem massiven Ausbau des Niedriglohnsektors einher, so daß inzwischen doppelt so viele Beschäftigte in Portugal für den Mindestlohn schuften wie noch vor sechs Jahren.

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