Vom Musterland zum Krisenstaat

„Junge Welt“, 01.12.2009
Slowenien: Gewerkschaften wollen Proteste gegen menschenunwürdige Entlohnung fortsetzen

Die Demonstration von über 30000 Arbeitern, Rentnern und Studenten am Sonnabend in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana könnte der Auftakt für eine große Protestwelle in dem vermeintlichen EU-Musterland sein. Organisiert wurde der Zug von Gewerkschaftsverbänden. Hauptforderungen waren die Erhöhung des Mindestlohnes von derzeit 459 Euro um etwa 31 Prozent auf 600 Euro und die Beibehaltung des Renteneintrittsalters von 56 (Frauen) bzw. 58 Jahren (Männer). Die Regierung plant eine einheitliche Anhebung auf 65 Jahre.

Eine führende Rolle bei den Protesten spielt die slowenische Gewerkschaft der Metall- und Elektroindustrie (SKEI), die bereits am 14. November einen Warnstreik zur Durchsetzung eines Mindestlohns von 600 Euro in ihrer Branche organisiert hatte, an dem sich 28000 Arbeiter beteiligten. Die bislang garantierten 459 Euro oder die häufig gezahlten nur geringfügig höheren Vergütungen reichten nicht für ein menschenwürdiges Leben, argumentieren die Gewerkschaften. Einer ihrer Sprecher, Dusan Semolic, bezeichnete die Großdemonstration am Wochenende als »erste Warnung an die Regierung und die Unternehmer«. Ministerpräsident Borut Pahor und die Unternehmerverbände begingen einen »schweren Fehler«, wenn sie die Proteste ignorierten.

Bislang weigern sich Regierung und Kapitalvertreter, auf die Gewerkschaftsforderungen einzugehen. Statt dessen startete die Industrie- und Handelskammer vor einigen Wochen eine Angstkampagne, bei der die Vernichtung von bis zu 74000 Arbeitsplätzen angedroht wird, sollte der Mindestlohn tatsächlich auf 600 Euro steigen, da Slowenien hierdurch seiner »Wettbewerbsfähigkeit« verlustig ginge. Ähnlich argumentierte Ministerpräsident Pahor im Vorfeld der Proteste: »Wenn die Arbeitskosten zu hoch sind, werden die Arbeitgeber die Leute entlassen und ihre Produktion woandershin verlegen.«

Vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise galt Slowenien als ein Musterland unter den ehemals sozialistischen Staaten, die nach 1989 eine kapitalistische Systemtransformation durchmachen mußten. Die ehemalige jugoslawische Teilrepublik konnte dank einer vorsichtigen Privatisierungsstrategie einen Ausverkauf der industriellen Kapazitäten an das westliche Kapital verhindern und so über lange Zeit hohe Wachstumsraten, ein relativ hohes Lohnniveau und annähernde Vollbeschäftigung gewährleisten. Doch spätestens mit dem Beitritt zur Eurozone setzte ein starker Inflationsschub ein, der vor allem Rentner verarmen ließ. Überdies hat die Weltwirtschaftskrise Slowenien hart getroffen. Jüngsten Schätzungen der slowenischen Regierung zufolge wird im Jahr 2009 das Bruttoinlandprodukt (BIP) des zwei Millionen Einwohner zählenden Landes um 7,4 Prozent fallen, während für 2010 nur ein marginales Wachstum von weniger als einem Prozent prognostiziert wird. Dies wird zu wenig sein, um die bereits bei 9,4 Prozent liegende Arbeitslosenquote zu senken, die im September 2008 bei noch 6,3 Prozent lag.

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